Lohn der Angst

„Die Hölle“. Claude Chabrol hat ein Szenario von Henri-Georges Clouzot verfilmt. Ein Stückchen für Paranoiker und ihre Lolitas in schöner Lage mit Blick auf den See. Was mußten sie auch unbedingt heiraten  ■ Von Mariam Niroumand

Wo allenthalben die Renaissance der Liebe am Firmament aufzieht, knattern bei Altman und Chabrol erst einmal Hubschrauber über den Himmel, als schwarze Geier, apokalyptische Reiter und so weiter; die einem gleich zu Anfang schon bedeuten, daß die Sache kein gutes Ende nehmen wird.

Kurz nach den Hubschraubern kommt Emmanuelle Béart um die Ecke, den Zuschauern mitten ins Gesicht, als Lolita mit knallroten Lippen, allerhand Popo und allerhand Schnute, ungefähr zwölfeinhalb. Auf dem Fahrrad. Sie und ihre Freundin besuchen Paul, der gerade dabei ist, ein kleines Hotel im Grünen herzurichten. Im Hotel gastiert ein älteres Ehepaar, das sich permanent anzügliche Bemerkungen durch die Früchtebecher zuflüstert und derweilen penetrant an Hörnchen lutscht. Chabrol schüttelt es. Nichts grauenhafter als Club-Mediteranée-Sex.

Das Anwesen ist ähnlich süßlich-pittoresk wie Resnais' Exerzierfeld für „Smoking/No Smoking“, viel gutes Holz, viel Garten, viele Nischen, ein See mit plötzlichen Untiefen...

Dann geht alles hopplahopp. Innerhalb der ersten zehn Minuten des Films sind der Paul und die Nelly verliebt, verlobt, verheiratet, dann steht ein Christkind vor der Tür, dann zwei, dann drei, ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, und dann wird plötzlich, fast unmerklich, ein winziger feiner Riß in diesem schreiend bunten Glück sichtbar.

Man kennt diese Risse aus guten Katastrophenfilmen: wir sehen, daß schon bald der Staudamm brechen, die Achterbahn aus dem Gleis fahren oder der Hai ins Seaworld-Paradies eindringen wird, aber die Akteure sehen es nicht. Bißchen mittelalterliches Szenario, Memento krisi.

Der ganz Kleine hat einen Asthmaanfall, die adäquateste Reaktion auf das lärmende Glück, und irgendwie kann Paul plötzlich nicht mehr so richtig schlafen. Als Nelly/ Béart dann sagt: „Ich bin die Königin der Schlafmittel“, weiß man, daß die Stunde geschlagen hat.

Nelly kommt zu spät vom Einkaufen, irgendwie hat sie geschwindelt, sie war nicht bei Mutter, und die knallgelbe Handtasche hat 4.000 und nicht 500 Franc gekostet. Ein Inzident reiht sich an den anderen, und der Film stürzt sich Hals über Kopf ins Fantasy-Kino, natürlich in dem Moment, als ein Film-im-Film auftaucht: Hinter der verhangenen Glaswand des Speisesaals sieht Paul es eines Abends flackern; da sitzt Nelly mit Martineau, einem Latin Lover von breitestem Lachen, und beguckt sich ein Homemovie. Aha. Pauls Brauen ziehen sich zusammen; bei Truffaut wär's lustig, bei Chabrol ist es der Anfang vom Ende, der Angel Exterminador zieht ein, mit schönem Gruß vom Buñuel, ein brother in arms von Chabrol. Wie im „Würgeengel“ rutscht der Horror auf die Kleinfamilie zu, man weiß nicht, was genau sie verhext. Von da ab verlieren die Protagonisten, die man bis dahin eh nie als Charaktere, sondern eher als grellbunte Signifikanten traf, gänzlich alle Konturen. Auch sie verlassen die Wohnung nicht mehr, das Licht fällt aus im ganzen Hotel, einige Gäste reisen ab, ein Rasiermesser liegt herum, Schlaftabletten.

Paul folgt Nelly in die Stadt, an den See, und zur Hölle fährt er, als sie sich im Bikini hinter Martineaus Boot herziehen läßt. Über Stock und Stein rast er hinter ihr her, sieht sie auf einer Insel ins Gras sinken, läuft um sein Leben, kommt schließlich abends, lange nach ihr, im Regen völlig erschlagen nach Haus zu einer weinenden Frau – und ist ein anderer. Was immer sie sagt, bestätigt seine kühnen Fantasien. Blitzartig sieht er die Kindfrau als Hure-Medusa-Megäre, ein grelles Lachen verhöhnt ihn.

Vielleicht ist es kein Zufall, daß man sowohl bei Resnais als auch bei diesem Chabrol immer irgendwie eher an Sandkastenspiele als an Bettgeflüster denkt. Schließlich gestaltet ja der Mann, der hier als zappelndes Opfer seines Wahns geschildert wird, die Welt nach seinem Bilde (sogar die Bilder selbst). Paranoia als Großdesign. Hat er nicht was von einem Regisseur, einem omnipotenten, wie wir da so mit ihm mitzittern, unsere Zweifel an der Frau haben und mithalluzinieren? In dem Sans fin, mit dem Chabrol uns in den Frühling schickt, liegt etwas wie der grandiose Abgang eines Zauberkünstlers, eines Hexen- oder eben Höllenmeisters.

„Die Hölle“. Regie: Claude Chabrol. Buch: Henri-Georges Clouzot. Kamera: Bernard Zitzermann. Musik: Matthieu Chabrol. Mit: Emmanuelle Béart, François Cluzet, Nathalie Cardone u.a. Frankreich 1994, 101 Min.