: Eine Durststrecke für Ingenieure
■ Interview mit dem Statistiker Rudolf Möller von der Bundesanstalt für Arbeit
taz: Gibt es in Westdeutschland trotz der ansteigenden Erwerbslosigkeit noch immer die klassischen Problemgruppen?
Rudolf Möller: In den alten Ländern hat sich 1993 die Rezession verstärkt ausgewirkt und die Arbeitslosigkeit höherqualifizierter Gruppen besonders stark steigen lassen. Diese sind zuvor von der Erwerbslosigkeit weniger betroffen gewesen.
Haben sich durch diesen Prozeß die klassischen Problemgruppen aufgelöst?
Deren Arbeitslosigkeit hat sich 1993 nur unterdurchschnittlich erhöht. Es sind aber nach wie vor die Älteren, Unqualifizierten und Behinderten, die wir zu den Problemgruppen zählen. Die unterdurchschnittliche Erhöhung beruht darauf, daß die Arbeitslosigkeit der Nichtproblemgruppen besonders stark gestiegen ist.
Nichtproblemgruppen?
Das sind die Komplementärgruppen, also jene, die nicht älter sind, die keine gesundheitlichen Einschränkungen haben, die einen beruflichen Abschluß haben. Wegen der Rezession waren die Betriebe, besonders im verarbeitenden Gewerbe, genötigt, sich auch von guten Leuten zu trennen.
Wird sich die Arbeitslosigkeit dieser Gruppe verfestigen?
Damit ist nicht zu rechnen. Beispielsweise hat sich die Arbeitslosigkeit der Ingenieure im Zeitraum September 1992 bis September 1993 um knapp 50 Prozent erhöht. Aber das ist vor allem ein konjunkturelles Phänomen. Und diese Arbeitslosigkeit wird erfahrungsgemäß zurückgehen, wenn die Konjunktur wieder kräftig anspringt und den Arbeitsmarkt erfaßt. Für die Betroffenen, also derzeit insbesondere Ingenieure und Naturwissenschaftler, ist wichtig, daß sie am Ball bleiben und die Arbeitslosigkeit sinnvoll überbrücken. Sie können etwa versuchen, länger an den Hochschulen zu bleiben, Teilzeit zu arbeiten, Honoraraufträge anzunehmen oder Weiterbildungen zu absolvieren. Die Hauptsache ist, daß die Arbeitslosigkeit nicht zu einer persönlichen Krise wird. Bei der Erwerbslosigkeit der Älteren, schlecht Ausgebildeten, Behinderten und Langzeitarbeitslosen ist die Gefahr viel größer, daß sie sich verhärtet.
Wie hoch ist denn der Anteil der Problemgruppen an den Arbeitslosen West?
Von den Personen, die sich 1993 arbeitslos gemeldet haben, hatten gut 60 Prozent wenigstens ein vermittlungshemmendes Merkmal. Das heißt umgekehrt: Knapp 40 Prozent waren jünger, hatten einen beruflichen Abschluß und waren gesundheitlich nicht beeinträchtigt. Von den Arbeitslosen vom September 1993 waren 26 Prozent schon länger als ein Jahr arbeitslos. Aber dieser Prozentsatz dürfte steigen, wenn bei anhaltendem Aufschwung vor allem die Nicht- Langzeitarbeitslosen wieder in die Beschäftigung zurückkehren.
Die Arbeitslosigkeit Ost weist andere Strukturen auf. Sie trifft Frauen stärker, der Anteil der arbeitslosen Ausländer und Aussiedler ist wesentlich geringer.
Ja, wir unterscheiden in unseren Publikationen nicht deshalb nach Ost und West, weil in uns eine Spalterseele wohnt, sondern weil die Entwicklung so unterschiedlich ist. Im Osten hängt vieles mit der noch immer nicht bewältigten Strukturkrise zusammen, mit der Ablösung von der DDR-Planwirtschaft. Die Frauen kann man in den neuen Ländern mit Recht als Problemgruppe bezeichnen. Sie stellen knapp zwei Drittel der Arbeitslosen. Das ist natürlich auch ein Resultat der systembedingt hohen Erwerbsbeteiligung der Frauen in der DDR.
Es ist aber zynisch, auf die Rückkehr der Frauen zu Heim und Herd zu warten und dann zu verkünden, das Problem der Frauenarbeitslosigkeit sei gelöst.
Durchaus, aber es ist was Wahres dran: Wenn die Erwerbsbeteiligung der Frauen und auch der Anteil der arbeitslosen Frauen sich westlichen Verhältnissen anpassen, ist das ein Normalisierungsprozeß. Manche Arbeitsmarktexperten sind der Ansicht, die jetzige Situation sei kein Grund, besonders aufgeregt zu sein.
Natürlich haben die Frauen einen Grund dazu.
Völlig richtig. Trotzdem ist zu erwarten, daß die Strukturen in Ost und West sich annähern werden. Die Erwerbsquote der Westfrauen steigt vermutlich weiter, im Osten dürfte sie weiter abnehmen. Ich sage das ganz wertfrei, unabhängig davon, ob das wünschenswert ist.
Wie sieht es mit den Ausländern und Aussiedlern aus?
Diese muß man im Westen als Problemgruppe bezeichnen. Gerade die Arbeitslosigkeit von Ausländern im Westen ist weit überdurchschnittlich gestiegen. 1993 war knapp jeder sechste Arbeitslose ein Ausländer und jeder vierzehnte ein Aussiedler. Interview: Silvia Schütt
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