: Wieviel Arbeit braucht der Mensch?
■ 23 Millionen sind in Westeuropa ohne Arbeit / Die Krise könnte die Demokratie bedrohen
Daß der 1. Mai dieses Jahr arbeitgeberfreundlich auf einen Sonntag fällt, scheint zu Nullrunden, Lohnverzicht und Arbeitsplatzvernichtung zu passen und die Inaktualität des Kampftages zu bestätigen. Man wartet schon gespannt darauf, wie Italiens Rechte auch diesen Mythos zu einer Feier der nationalen Arbeit umdeuten wird. Doch hinter den härter gewordenen und dennoch erstaunlich milde verlaufenden Tarifkämpfen taucht eine andere, grundsätzlichere Frage auf: Wieviel Krise verträgt die Demokratie?
Panik im Mittelstand: Dafür, für Ellbogenmentalität und Rette-sich-wer-kann- Strategien, sei die politische Klasse verantwortlich, hört man jetzt, und diese gibt den Schwarzen Peter weiter: „Die“ Gesellschaft sei von moralischem Zerfall und Werte-Erosion gekennzeichnet. Für beides gibt es unbestreitbare Anzeichen.
Aber eine Gruppe, die die ökonomischen Geschicke dieses Landes bestimmt und den Umbau der industriellen Dienstleistungsökonomie leitet, bleibt von Kritik verschont: Manager, Unternehmer, Kapitaleigner und Banken. An ihnen ist die Skandalmaschine, die sonst niemanden ausläßt, fast spurlos vorbeigegangen, auch wenn ein hemmungsloser Betrüger wie Frankfurts Jürgen Schneider mit einer hiesigen Großbank die Stadt in eine Katastrophe reißen kann, und selbst wenn der berechtigte Vorwurf „Nieten in Nadelstreifen“ die Runde macht.
Noch sonnen sie sich in ihrem vermeintlichen Sieg über den Realsozialismus und liefern dabei der Kritik am Kapitalismus mehr Stoff als alle intellektuellen Antikapitalisten und Kampftage der Arbeiterklasse zusammen. Die sterile Standortdebatte und fade Aufschwunggerüchte lassen sie gänzlich ungeschoren und zwingen ihnen keinerlei Selbstkritik oder gar Innovation auf. Die alten Klassenkämpfe sind passé, aber der Wirtschaft kann man das Schicksal der europäischen Demokratie nicht anvertrauen.
Die Selbstpreisgabe der Weimarer Republik, die den Extremisten der Mitte das Terrain überließ, ist bis heute Beispiel und Menetekel der gefährdeten Demokratie westlich-liberalen Typs geblieben. Die Gefährdungen scheinen zugenommen zu haben, paradoxerweise, seit sich dieses Modell weltweit und alternativlos durchzusetzen beginnt. Daß Bonn nicht Weimar sei, ist zwar bis zum Überdruß zitiert und durch die außergewöhnliche Stabilität der Bundesrepublik eindrucksvoll dementiert worden – bis auf den heutigen Tag. Trotzdem hängt der Zusammenfall von Wirtschaftskrise und Demokratiezerstörung wie ein Damoklesschwert über den reichen europäischen Gesellschaften.
Bewältigen die Wohlfahrtssysteme ein immer weiter wachsendes Heer von Arbeitslosen, darunter viele, die seit Jahren nicht mehr im Arbeitsprozeß tätig oder, wie die jugendlichen Jobsucher, noch nie in ihn eingetreten waren? Halten es die politischen Institutionen aus, daß diese Gruppen, aber auch viele andere „Politikverdrossene“, sich enttäuscht und passiv abwenden, weil sie die Botschaften der politischen Klasse nicht mehr verstehen oder nur noch zynisch kommentieren? Gibt es also, wie sich wieder in Italien andeutet, einen neuerlichen „Extremismus der Mitte“, eine Massenflucht aus dem bürgerlichen Lager und den gemäßigten, weil verfassungs- und republiktreuen Rechtsparteien nach rechtsaußen? Die Gründe für die Desertion der Weimarer Mitte lagen in der sozialen, politischen und kulturellen Entwurzelung des alten und des neuen Mittelstandes, also in der Orientierungslosigkeit, Verarmung und Republikverdrossenheit der Bauern, Gewerbetreibenden und Händler, der kleinen und mittleren Angestellten und Beamten, der Selbständigen und Freiberufler.
Eine derart eindeutige soziale und kulturelle Basis haben die Republiken heutzutage ohnehin nicht mehr; bürokratische Volksparteien sind an die Stelle der mittelständischen Honoratiorenvereine getreten, die ihnen zugrundeliegenden Milieus haben sich pulverisiert und zugleich gesellschaftsweit ausgedehnt. Der heutige Nationalpopulismus, der sich in Italien, Österreich, Frankreich und auch in Deutschland breitmacht, zapft aggressive, demokratiemüde Ressentiments aus allen Lebens- und Soziallagen an.
In den Vereinigten Staaten ist viel von der „Panik im Mittelstand“ die Rede, und ähnliches ist in Europa spürbar: eine wachsende Nervosität der scheinbar so sicheren Mittelschichten, die längst auch die Kinder und Enkel, die Erben einer nicht enden sollenden Wachstumsepoche erfaßt hat. Gerade die jungen Männer der unteren Mittelschicht, die zwischen Facharbeiter- und Dienstleistungsetage unterwegs und in Orten wie Hünxe angesiedelt sind, reagieren gegen die in sie gesetzten Aufstiegserwartungen, die unmöglich zu erfüllen sind. Ein Aspekt des Aufstands der rechten Jugendlichen, die mit aufstiegsorientierten Emigrantenkindern um die knapper werdenden Ressourcen kämpfen, ist ja dieser: Sie spüren instinktiv, daß es aus ist mit den fetten Jahren. Claus Leggewie
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