Gewerkschaften schlagen Alarm

■ Arbeitssuchende werden von Kopf bis Fuß durchleuchtet

Stockholm (taz) – Das Glasröhrchen mit der Urinprobe wird neben Arbeitszeugnissen und Lebenslauf zum immer selbstverständlicheren Bestandteil von Neuanstellungen. Eine Entwicklung, die der schwedische Gewerkschaftsbund (LO) gerne stoppen würde: „Heute ist es allein aufgrund einer einfachen Urinprobe möglich“, so Gewerkschaftsjurist Kurt Junesjö, „nicht nur erbliche Krankheiten vorauszusehen, sondern beispielsweise auch das Streßvermögen eines Menschen zu messen.“ Eine Entwicklung, die dazu führt, daß Menschen mit Krankheitsanfälligkeiten – und seien sie auch nur theoretisch – bald ein Großteil des Arbeitsmarkts verschlossen bleiben könnte.

Angefangen hatten die routinemäßigen Urinproben in vielen schwedischen Unternehmen mit dem Wunsch, Arbeitssuchende und Angestellte auszusieben, bei denen Drogenmißbrauch nachzuweisen ist. Mittlerweile spucken die Labors dem Personalchef aber eine ganze Liste möglicher Schwachpunkte der Arbeitssuchenden aus, die sich bereitgefunden haben, ins Röhrchen zu pinkeln. Arbeitssuchende, die sich weigern, kommen gleich gar nicht in die Endauswahl. Daneben werden auch Befragungen über Einzelheiten des Privatlebens immer alltäglicher. So enthalten die Anstellungsfragebogen vieler Firmen Fragen nach Zahngesundheit, der Zahl zu Hause zu versorgender Kinder und nach exakter Angabe der Krankheitsfehlzeiten beim letzten Arbeitgeber.

Die Gewerkschaften halten Fragen solcher Art für unzulässig und empfehlen ihren Mitgliedern, sie nicht zu beantworten. Doch Illusionen macht sich Kurt Junesjö nicht: „Juristisch gibt es kein Verbot, solche Fragen zu stellen. Zwar muß sie niemand beantworten, aber es gibt eben das freie Anstellungsrecht des Arbeitgebers.“ Einen Stopp für immer weiter gehende Persönlichkeitskontrollen kann es nach Meinung des Gewerkschaftsbundes nur über entsprechende gesetzliche Verbote geben. Seit Monaten wird hierüber im sozialpolitischen Ausschuß des Reichstages diskutiert, ohne daß bislang ein mehrheitsfähiger Gesetzentwurf herausgekommen wäre.

Die Arbeitgeber behaupten, die meisten Kontrollen seien zum Schutz des Arbeitssuchenden selbst und der Arbeitskollegen eingeführt worden. Ein Verbot gewisser Fragen wäre nach Befürchtung der Gewerkschaften leicht durch abgeänderte Fragestellung zu umgehen, und eine pauschale Verbotsregelung würde zu ewigem Streit führen. So blüht in Schweden vorerst ein neues Gewerbe: spezielle Anstellungsfirmen, die im Auftrag von Unternehmen Interessenten für Neueinstellungen testen. Buchstäblich bis hin zu Haut und Haaren, Blut und Urin. Reinhard Wolff