: In den Niederlanden wird gewählt
Wahlkampfthemen: Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Asyl und Affären / Erstmals wäre ein Kabinett ohne Christdemokraten denkbar / Rechtsradikale befinden sich im Aufwind ■ Aus Amsterdam Harald Ronge
Mit Bangen erwartet die niederländische Regierung das Ergebnis der heutigen Wahlen: Es gilt als sicher, daß die Koalition aus Christdemokraten (CDA) und Sozialdemokraten (PvdA) ihre Mehrheit einbüßt. Die CDA, bisher größte Partei, verliert den Prognosen zufolge mehr als ein Drittel ihrer Wähler. Hauptthemen des Wahlkampfes sind Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Asyl und Affären.
Die Koalition unter Leitung von Ministerpräsident Ruud Lubbers und Finanzminister Wim Kok (PvdA) verfügt zur Zeit über eine komfortable Mehrheit von 102 der insgesamt 150 Sitze im niederländischen Parlament. Die Opposition besteht aus den Rechtsliberalen (VVD: 22 Sitze), den Linksliberalen (D'66: 12 Sitze) und den Grünen (GroenLinks: 6 Sitze). Drei fundamental-christliche Parteien und die rechtsradikalen Zentrumdemokraten, die mit einem Sitz im Parlament vertreten sind, runden das Parteienangebot ab.
Der jetzige Ministerpräsident Ruud Lubbers (CDA) verzichtete schon frühzeitig auf eine erneute Kandidatur – er wollte sich lieber um die Nachfolge von EU-Kommissar Delors bewerben. Statt dessen ging der CDA-Parteivorsitzende Elco Brinkman ins Rennen. Ein entscheidendes Handicap für die CDA: dem glatten Funktionär Brinkman fehlt die staatsmännische Aura von Lubbers. Mehr noch schadete den Christdemokraten, daß sie die Renten einfrieren wollten. Damit verprellten sie ihre treuesten Wähler, die ihnen schon bei den Kommunalwahlen im Februar einen kräftigen Denkzettel verpaßten. Erschrocken strichen sie die betreffenden Passagen aus dem Parteiprogramm. – Die Sozialdemokraten (PvdA) führten dagegen einen vergleichsweise ruhigen Wahlkampf, der sich gänzlich auf ihren Spitzenkandidaten Wim Kok ausrichtete. Dieser verbreitete solide soziale Langeweile. Obwohl man damit rechnet, daß auch die Sozialdemokraten 20 Prozent ihrer Stimmen einbüßen, könnten sie erstmals wieder größte Partei werden. Hauptgewinner der Wahlen scheinen die Linksliberalen (D'66) zu werden. Dies verdanken sie hauptsächlich ihrem charismatischen Parteivorsitzenden Van Mierlo, einem undogmatischen Zweifler.
Bei den Grünen (GroenLinks) steht Mohammed Rabbae an erster Stelle der Wahlliste. Trotz prognostizierter Stimmengewinne und einem anerkannt soliden Arbeitsbeschaffungsprogramm gilt eine Regierungsteilnahme nach den Wahlen als unwahrscheinlich.
Die rechtsliberale Unternehmerpartei VVD nahm sich des Asylthemas an. Ihr Parteivorsitzender Bolkestein – der sich mit Erfolg gegen den Vorwurf verteidigt, er sei ein Intellektueller – forderte, nur noch europäische, sprich: weiße Flüchtlinge aufzunehmen. Die VVD möchte im öffentlichen Haushalt kräftig kürzen und ein sogenanntes Basissystem einführen, in dem Sozialhilfeempfänger bei niedrigen Bezügen hinzuverdienen dürften.
Die Zentrumsdemokraten zogen mit dem Slogan „Die Niederlande den Niederländern“ in den Wahlkampf. Zunächst schienen sie ihren Stimmenanteil stark erhöhen zu können, aber interne Streitigkeiten und Prozesse verschreckten viele Wähler. Insbesondere die Festnahme des Amsterdamer Ratsmitglieds Graman, der sich vor einer verborgenen Kamera damit gebrüstet hatte, „Negerhäuser“ angezündet zu haben, verdarb der CD das Konzept eines sachlichen Ausländerhasses.
Vor dem Hintergrund der Meinungsumfragen haben die Koalitionsspekulationen schon früh begonnen. Erstmals wäre ein Kabinett ohne Christdemokraten möglich, die seit 1977 in jeder niederländischen Regierung saßen. Jetzt zeichnet sich eine sogenannte „lila“ Koalition aus PvdA (rot), VVD (blau) und D'66 (farblos) mit Kok als Ministerpräsident ab. Ob diese merkwürdige Farbkombination nur ein taktischer Vorschlag ist, der die verängstigten Christdemokraten frühzeitig unter Druck setzen soll, wird sich allerdings erst nach den Wahlen herausstellen.
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