: "Kick mal, da wohn' ick"
■ Kommunales Forum Wedding und Studenten der Stadt- und Landschaftsplanung starteten Modellprojekt "Aktiv im Kiez" / Ziel ist, die Eigeninitiative der Anwohner zu stärken, ihren Kiez bewohnbarer zu machen
Wedding. Samstag nachmittag. Die Straßen sind wie leergefegt. Strahlender Sonnenschein lockt die einen ins Grüne, Tennis, Eishockey und König Fußball die anderen vor die Glotze. Nur die Weddinger läßt das alles völlig kalt: Mehr und mehr Leute strömen durch das weit geöffnete Portal in die Osterkirche in der Samoastraße. Mitten im Saal steht eine Platte vom Ausmaß eines großen Büffets. Aber nicht etwa Lachshappen oder Vollkornplätzchen sind darauf zu sehen, sondern ein etwa zehn Quadratmeter großes Modell des südlichen Weddinger Kiezes rund um die Amrumer Straße. Überwiegend jüngere Menschen, im Laufe des Nachmittags an die 70 Personen, drängen sich um diese Schöpfung aus Styropor, Papier, Farbe und Klebstoff. „Kick mal, da wohn' ick“, erkennt ein Nickelbebrillter seinen gewohnten Lebensraum in einem windschiefen Papierkästchen wieder.
Wer die Schwelle der Kirche überwunden hat, weiß, was auf ihn zukommt: Seit zwei Wochen ist eine Gruppe von sechs PlanungsstudentInnen und zwei Kiez-Bewegten des Kommunalen Forums Wedding e.V. auf Tour durch den „roten“ Wedding. Stets war auch das Kiezmodell dabei und wurde den Anwohnern präsentiert. Jetzt aber sollen die Anwohner selbst tätig werden und das Pappmodell mit vielen bunten Kärtchen nach ihren eigenen Bedürfnissen verändern. Ganz ohne „Expertenchinesisch“ und vor allem ohne den Zwang, ihre Vorschläge argumentativ vertreten zu müssen. Sinn und Zweck des Ganzen: über eine spielerische Herangehensweise die Eigeninitiative der Anwohner zu stärken. Sie zusammenzubringen und zu mobilisieren, für ihren Kiez aktiv zu werden, ihn schöner und bewohnbarer zu machen. Dazu gehört auch Nachbarschaftshilfe, die mit Hilfe von sogenannten Talentebögen organisiert werden soll, erklärt Andrea Tigges, angehende Landschaftsplanerin und Kiezaktivistin. „Wenn die Anwohner diese Bögen ausfüllen, können wir herausfinden, welche Potentiale und Fähigkeiten es hier gibt.“ Anhand der ausgewerteten Talentebögen wäre es zum Beispiel sofort möglich, einen Babysitting-Austauschring oder Einkaufshilfen für alte Menschen zu realisieren.
„Planning for Real“ heißt das Gesamtkonzept, das aus England importiert ist und dort schon seit 17 Jahren erfolgreich umgesetzt wird. Frei übersetzt, heißt es hier „Aktiv im Kiez“. Eine sich für den Wedding fast aufdrängende Übersetzung des Informationsmaterials in die türkische Sprache fehlt allerdings bisher. So sind dann auch in der Kirche die anakademisierten deutschen Dreißiger und Vierziger fast unter sich und schieben kleine bunte Kärtchen, auf denen Stadterneuerungsideen verzeichnet sind, über das Modell.
Bürger im Planungsrausch: „Alles begrünen – aus den Hinterhöfen öffentliche Grünanlagen machen, wo immer es möglich ist“, ruft der Pfarrer der Gemeinde mitten ins weltliche Planungsgeschehen. „Hat jemand noch ein paar grüne Kärtchen?“ Familienvater Marcus Pattloch aus der Buchstraße geht da schon differenzierter vor und legt in seiner Wohnstraße eine rote Verkehrskarte: „Zebrastreifen sind eine sinnvolle Sache, denn hier an der Buchstraße, Ecke Nordufer ist es so gefährlich, vor allem für die Kinder.“ Dann aber gerät er richtig in Fahrt. Ein paar Lampen müssen her, die Straße ist zu dunkel, und am Nordufer ließe es sich zwar schön spazierengehen, doch „man läuft derzeit von einer Bierdose zur anderen“, also säubern: die rosa Karte ist gelegt.
Brennpunkte: Grünflächen und Verkehr
Grün und rot, das heißt, Grünflächen und Verkehr, sind offensichtlich die bewegendsten Themen im dichtbesiedelten Kiez. Und an einem Punkt reicht es fast allen Kiezbewegten vollends: Die stadtbekannte Weddinger Kinderfarm und ein beliebter Abenteuerspielplatz sollen einem Schulneubau weichen. „Aber ein Parkhaus, häßlich und ohne Sinn, steht direkt daneben“, empört sich Nicole Tragert und fordert den Abriß. Dies wiederum wirft bei einigen Teilnehmern in all ihrem Enthusiasmus auch Fragen auf. Hofbegrünung und Nachbarschaftshilfe mögen ja gemeinsam zu organisieren sein, aber kann das bis zum Abriß eines ganzen Gebäudes oder hin zu Straßensperrungen reichen? „Wie kann man das alles umsetzen?“ fragt sich Anwohner Michael Tillmann. „Ich arbeite selbst beim Bezirksamt und sehe, wie schwerfällig das da vorangeht.“ Außerdem: Der politische Wille werde wohl kaum dasein. Und überhaupt, „wer soll das alles bezahlen, jetzt, wo überall gespart wird?“ Seine Skepsis scheint begründet, denn die geladenen Experten vom Bezirksamt sind nicht erschienen. Vertreten war lediglich die Familienfürsorge und das Büro für stadtteilnahe Sozialplanung (B.f.s.S. GmbH), das im Auftrag des Bezirksamtes offene Mieterberatung durchführt. Dies ist für Andrea Tigges aber zum jetzigen Zeitpunkt ein eher untergeordnetes Problem. „Es ist uns gelungen, Leute anzusprechen, die hergekommen sind, ihre Interessen und ihre Ideen formuliert haben, das ist doch schon mal ein Ergebnis.“ Es gehe erst einmal darum, kleine Schritte zu machen: „Die Anwohner sehen, ich bin nicht allein mit meinem Problem – also laßt uns was gemeinsam unternehmen.“
Wichtig sei, das alles kontinuierlich fortzusetzen, einen Aktionsplan zu verfolgen. „Wir sortieren, was kann sofort, was bald, was später passieren? Was können wir selber machen, wozu brauchen wir fachliche Hilfe?“ Jetzt werden die Leute von „Aktiv im Kiez“ erst mal weiter mit ihrem Modell auf die Straße gehen. Talentebögen auswerten und Arbeitsgruppen mit interessierten Anwohnern bilden, die an die Umsetzung der Wünsche gehen sollen. Viel Kleinarbeit steht an, doch der Weddinger bleibt Optimist, jedenfalls Marcus Pattloch aus der Buchstraße: „Wenn auch nur einer von hundert Vorschlägen verwirklicht wird, so ist das doch schon ein Schritt in die richtige Richtung.“ Judith Gampl
„Aktiv im Kiez“ trifft sich immer mittwochs um 18 Uhr in der Weddinger Osterkirche.
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