■ Was man bei Scharping kritisieren kann – und was nicht
: Die unsichere Trompete

Das Superwahljahr hält sich mit erfrischenden, klärenden Kontroversen außerordentlich zurück. Die beiden großen Blöcke, Union und SPD, umschleichen sich vorsichtig, und fast mühselig rufen wir uns gelegentlich ins Gedächtnis, daß am 16. Oktober 1994 wahrscheinlich, möglicherweise oder auch nicht das Ende der Ära Kohl ansteht. Doch der angeschlagene Kanzler, der den Jüngeren aus purer Gewöhnung fast wie der König von Deutschland erscheint, hat vielleicht nicht unrecht, wenn er auf seine bewährte Endspurtstärke setzt. Der steile Aufstieg seines Herausforderers wird neuerdings von allerlei Widrigkeiten gebremst. Für Helmut Kohl hingegen läuft es wie am Schnürchen: am Horizont der wirtschaftliche Silberstreifen, im Nahbereich der Sieg des eigenen Bundespräsidentenkandidaten, gebucht die Koalitionsaussage der FDP. Wenn die alte Koalition fest zueinander steht, sitzt die SPD zwangsläufig im rot-grünen Lager – eine Traumkonfrontation für die letzte Wahlkampfphase.

Für den Kanzler, nicht für die SPD. Ihr Vorsitzender rudert stur und schrecklich unbeeindruckt von atmosphärischen Verlusten am Rande in seine Richtung: ohne die SPD soll keine Regierungsbildung möglich sein und je mehr Verhandlungspartner für eine Koalition, desto besser. Die Botschaft lautet: Arbeitsplätze, Modernisierung, Sicherheit. Super in diesem Wahljahr ist immerhin das Tempo, mit dem Rudolf Scharping die SPD auf seinen Kurs einschwören konnte. Verblüffende Einzelheiten pflastern seinen Weg: Der mit rot-grüner Perspektive für Bonn angetretene Ex-Konkurrent um den Parteivorsitz, Gerhard Schröder, hat das Tempolimit unaufgefordert als erster gekillt und zudem noch gründlicher, als das SPD-Regierungsprogramm vorsieht. Im Kampf um mehr Ökologie gescheitert, tritt der Parteilinke Christoph Zöpel die Flucht nach hinten an, und ausgerechnet Schröder kommentiert bei dieser Gelegenheit, daß die SPD, Gott sei Dank, mit Scharping inzwischen wieder Führung habe. Oskar Lafontaine, Kronzeuge für den ökologischen Wandel der SPD, reklamiert, daß die SPD auch unter Scharping für eine ökologische Reformorientierung einstehe.

Die meisten Anhänger von Rot- Grün sind vom Gegenteil bombenfest überzeugt. Mit säuerlicher Miene, solange Scharping als neuer Shooting-Star Triumphe feierte, neuerdings wieder im Brustton der Überzeugung wird in diesem Lager beklagt, daß ein Wechsel mit so einer SPD im Grunde wenig Sinn mache oder gar nicht möglich sei: Scharping als Bro Kohli und seine SPD als christdemokratisierter Verein unter Präsidialführung! Wie diese (rechte) Richtung einzuordnen ist, steht fest; rätselhaft ist allenfalls, warum die SPD geschlossen mitmacht. Dabei liegt letzteres auf der Hand. Wie Scharpings Kurs hingegen einzuordnen ist, wird vermutlich noch eine ganze Weile Rätsel aufgeben.

Die SPD macht mit, weil es zum Fischzug in der Mitte einfach keine Alternative gibt. Will die SPD Mehrheiten überzeugen, dann sind Scharpings Botschaften richtig. Besorgte Unsicherheit und die Gewißheit, daß Veränderungen unumgänglich sind, damit ist die Grundstimmung im Jahr 1994 beschrieben. Ein heikles, ein ganz besonderes Reformklima! Zwar wird in breiten Schichten akzeptiert, daß es „so nicht weitergehen“ kann, doch von „Aufbruch“ keine Spur. So mögen die objektiven Verhältnisse allen Grund geben zur Ungeduld, doch tatsächlich veränderbar sind sie nur, wenn das subjektive Bedürfnis nach Sicherheit, nach Augenmaß und einem erträglichen Tempo ernst genommen wird. Das jedenfalls verspricht die SPD den Wählern. Der Ruf nach Arbeitsplätzen ist nicht in erster Linie ein soziales Versprechen, denn jeder weiß, daß auch die SPD nicht zaubern kann. Die SPD wirbt damit in erster Linie um Vertrauen: Demonstrativ erkennt sie die wichtigsten Sorgen in der Bevölkerung an.

Es stimmt, daß der sozialdemokratische Weg zur Regierungsmacht keine glanzvolle Reformperspektive eröffnet. Doch daß die SPD den Fortschritt der puren Macht opfere, ist ein lächerlicher Vorwurf. Der große Aufbruch nach vorn ist nicht einfach willkürlich zu haben. Kein klingendes Rot-Grün begleitet den Weg ins Kanzleramt, und das ist nicht nur deshalb richtig, weil die SPD damit in der Opposition bliebe – wie übrigens auch alle Anhänger dieser Konstellation wissen. Schwerer als das machttaktische wiegt das inhaltliche Argument. Mit welchen vorwärtsweisenden Projekten ist im Jahre 1994 eine rot-grüne Alternative eigentlich ausgewiesen? Wer ehrlich ist, muß auf diese Frage passen. Ökologische Modernisierung, Umverteilung der Arbeit, eine neue Einwanderungspolitik, jawohl, die Themen stehen an, und sie finden sich in bündnisgrünen Programmen wie in den sozialdemokratischen. Doch sosehr man bezweifeln kann, ob die SPD damit mehr als Lippenbekenntnisse abliefert, so wenig lassen die Grünen überzeugende Ideen erkennen, wie ihre Kataloge heute verwirklicht werden können. Atomausstieg in zwei Jahren postuliert beispielsweise ihr Programm, doch gerade grüne Experten können vorrechnen, daß der Staat dann leider pleite wäre. Die Wahlaussagen sind Glaubenssache – bei beiden Parteien. Rot-Grün ist 1994 kein Bürgerschreckgespenst, eine vertrauenschaffende Maßnahme aber auch nicht.

Die Reformideen aus den achtziger Jahren können nicht neben oder anstelle der Standortmodernisierung realisiert werden, denn es gibt keine freie Wahl zwischen den Alternativen Krisenmanagement oder Reformpolitik. Ein reformerisches Krisenmanagement (oder krisenbewußtes Reformmanagement), das wäre anzusteuern. Es trifft darum voll daneben, wer der SPD vorhält, wegen ihrer Konzentration auf die ökonomischen Themen käme alles mögliche andere zu kurz. Die SPD verdiente, an ihrem richtigen Postulat gemessen zu werden, daß nämlich alle wünschenswerten Veränderungen auf die Hauptfrage der wirtschaftlichen und staatlichen Modernisierung bezogen werden müssen. Ganz offenkundig gilt das für die ökologische Frage, die ein Schwungrad für die wirtschaftliche Neuorientierung werden könnte, doch gilt es auch für die Frauen-, Familien- oder Einwanderungspolitik. Reformen müssen heute gleich zweimal an strenge Meßlatten: die der schlichten Finanzierbarkeit und die der manchmal viel schwierigeren gesellschaftlichen Akzeptanz.

Die Schwäche der SPD im Wahljahr ist nicht, daß sie zuviel links liegenläßt, sondern daß sie mit ihren Kernthemen über unscharfe Botschaften nicht hinausgekommen ist. Die SPD zahlt einen Preis dafür, daß sie erst spät und unter Zähneknirschen auf die Fragen eingeschwenkt ist, die beantworten muß, wer den Wechsel will. Karg, öd und dürr kommt das Programm daher. Denn Scharping verwendet zu viele Energien darauf, falsche Begehrlichkeiten abzuwehren. Besser ginge er mit dem Projekt Modernisierung unter die Leute. Es verträgt und braucht die kritische Diskussion, Pluralität und auch mal einen falschen Vorschlag. Tissy Bruns