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Aus dem Winter desertieren

Der Dichter Jean Giono kämpfte zeitlebens gegen die Zerstörung seiner Provence  ■ Von Gabi Trinkhaus

„Frühling ist, wenn die Wärme über der schwellenden Durance lastend blaut, da singen alle Obstgärten, über und über mit Blüten angeputzt, im lauen Wind.“

Jean Giono

Keinen Blick haben wir für verschneite Schwarzwaldgipfel, keinen Blick für die weiß funkelnden Alpen über dem Genfer See. Wir wollen Wärme, Sonne, Blumen. Das Mont-Blanc-Gebiet im Winter, das ist die Hölle. Noch um die Jahrhundertwende lebten die Bergbauern im Winter wie die Murmeltiere. Freiwillig suchten diese Gegend nur Flüchtlinge auf, um unkontrolliert die Grenzen zwischen Frankreich, Italien und der Schweiz passieren zu können.

Bis hierher wagte sich der provençalische Dichter Giono und verfolgte in seinem Buch „Der Deserteur“ die Spuren eines aus Frankreich flüchtenden Votivmalers. Er hört voll Schrecken „die Finsternis wiehern und die Berge bellen mit allen ihren Echos“, und der „Eisgeruch des Val Ferret“ liegt ihm in der Nase. Das ist es nicht, was wir suchen. In Grenoble queren Skifahrer die Straße. Unter noch zaghaft blühenden Mandelbäumen warten sie auf den Bus, der sie hoch in die Kälte bringt. Wir lassen den Mont Blanc links liegen, auch die Route Napoléon.

Der direkteste Weg in den Süden führt durch das kleine Städtchen Monestier de Clermont. Da gönnen wir uns eine Pause. Die grauen Häuser sind mit noch graueren Tüchern verhangen. „Autobahn jetzt“ oder „Autobahn nein“ oder „Umgehung ja“. Im Sommer herrscht auf der schmalen Dorfstraße Dauerstau und im Dorf Dauerstreit. Nach ihrer Meinung befragt, zuckt die Frau im Bistro mit den Achseln. Sie verdient an den Reisenden und der Campingplatz auch. Zum Halten gezwungen, entdecken manche die Schönheit der Umgebung und verzichten auf die Weiterfahrt ans Meer. Links der Straße hinter dem Berg wartet ein immer windiger Stausee auf Surfer, rechts der Parc Régional du Vercors auf Wanderer. Damit man im Sommer auch die Straße wechseln kann, bedient ein Rentner die Fußgängerampel. „Im Sommer stehen die Autos bis zum Autobahnende in Sisteron“, kichert ein Alter, „aber nicht nur wegen unserer Ampel.“ Heute ist die Straße verwaist. Die Ampel grün, es ist regnerisch und grau.

Vor Sisteron, dem Tor zur Provence, wartet noch ein Paß auf uns. Der Col de la Croix Haute. Wir geraten in einen letzten winterlichen Hinterhalt. Aus Regentropfen werden Schneeflocken, Schneetreiben. Es wird dunkel. Vor den Scheinwerfern tanzt ein Flockenvorhang, versteckt die Straße und Abgründe gleichermaßen. Oben auf dem Buckel heult der Wind, der Schnee fliegt waagerecht. Langsam rutschen wir abwärts. Die Flocken werden dicker, schwerer, klatschen wie Brei auf die Scheiben.

In Sisteron quetscht sich die Durance zwischen den Felsen hindurch, die sich rechts und links auftürmen. Das ist der Durchbruch in den Süden. Die tiefen Rillen des Rocher de la Baume sind schneegefüllt. Weiß blitzen die Türme der Zitadelle auf der anderen Flußseite.

Wir nehmen die kleine Straße am östlichen Duranceufer. Auf der anderen Seite plättet die Autobahn das Ufer. In der Ferne leuchtet der Sommet de Lure (1.826 Meter). Doch wir wollen ans Flußknie nach Mées. Dort wartet eine Gruppe versteinerter Mönche auf unseren Besuch. Für alle Ewigkeit stehen sie da, wie eine nackte Ansammlung grauer Felssäulen. Eine grausame Strafe für einen nicht genehmigten Flirt mit einer Zigeunerin. Wir streicheln den kalten Stein und sehen den Frühling. Das ganze Durancetal ist ein einziger Blütengarten. Kirschen, Äpfel, Mandeln verströmen ihren Duft im lauen Wind. Die Benediktinerpriorei Ganagobie, vielleicht Heimat der Mönche, liegt, auf der anderen Flußseite auf einem zugigen Hochplateau.

Südlich davon steigt Manosque aus dem Flußtal: waldige, einsame Hänge des Lubéron, mit seinen versteckten Felsendörfern, Lavendelwiesen und Olivenhainen. Das ist Gionos Land.

Hier sind sie zu Hause die Bäuerinnen und Bauern, Hirten, Fischer, Landarbeiter und Mägde seiner Bücher. „Er war der Knecht Saturin. Er war nichts. Aber als er merkte, daß der Wein und ich ihn wohl zum Sprechen bringen würden, da ist er aufgestanden, da hat er seine Arme wie Taubenflügel ausgespannt und ist gegangen. So liebe ich die Menschen. Es gibt wohl noch ein paar von dieser Art hierherum. Das tröstet über die übrigen.“

Giono wurde im Jahr 1895 in Manosque geboren. Seine Eltern, italienische Einwanderer, Büglerin und Schuster, sorgten trotz Armut für seine Ausbildung. In dem Buch „Jean der Träumer“ erzählt er von seiner Kindheit und setzt seiner Vaterstadt ein Denkmal. „Gerade unter dem Glockenturm knüpfte sich ein Gewirr von kleinen Gäßchen netzartig um die Kirche herum. Sie verästelten sich wie das Adergeflecht auf einem Eschenblatt; es war dort schwärzer als die Nacht, und es roch nach Stall und Ausguß. Dann kam ein Geruch nach Brot und trockenem Reisig. Dumpfe Schläge tönten hinter den Mauern. Eine Luke blutete in breitem Strom: das Licht gerann in Jauchepfützen.“

Bis zu seinem Lebensende 1970 kämpfte er gegen die zivilisatorische Verwüstung seiner Provence durch Autobahn, Militärstützpunkte, Atomraketen und Atomkraftwerke. Sucht man sein Geburtshaus in Manosque, wird man lange durch schmale Gassen voller Boutiquen irren, bis einem die kleine Tafel, ausgerechnet neben einem Schuhgeschäft, in der Rue Grande Nr. 14 auffällt. Das Manosque von „Jean dem Träumer“ ist nur noch Traum. Vielleicht wäre es Manosque gelungen, den hier wohnenden Atomwissenschaftlern des nahen Forschungsreaktors den großen, kritischen Sohn zu verschweigen, aber die „Spinner“ der Nation, die sich um Giono, gesammelt hatten, kämpfen weiter für ihre Provence. In den von der Landflucht entvölkerten Lubéron zogen Künstler, Pazifisten, Aussteiger. Sie renovieren und beleben die zerstörten Felsennester.

Gionos Menschen wird man bald vergeblich suchen. Aber vielleicht hat er für die Zivilisationsdeserteure eine neue Heimat geschaffen.

Grasse: Touristeninformation

3, Place de la Foux, Tel.: 93360356

Sisteron: Campingplatz „Le Près Hauts“, Tel.: 92 61 19 69; „Grand Hôtel du Cours 150 FF, Tel.: 92 61 04 51; Zitadelle 9–18.00 Uhr, Kulturprogramm „Nuits de la Citadelle“, Tel.: 92 61 06 00 Juli, August

Manosque: Touristeninformation Place du Docteur P., Giono-Museum, Joubert, Tel.: 92 72 16 00

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