■ Bosnien, Ruanda und Enzensbergers „Ansichtskarte“: Die Rhetorik des „Bürgerkriegs“
Im ersten Jahr des Krieges in Bosnien schrieb kein Geringerer als Hans Magnus Enzensberger seine „afrikanische Ansichtskarte“ (taz vom 5.9.92) an das, was er für einen balkanischen und irgendwie auch europäischen Stammeskrieg hielt. Mit einem Gedankenflug und anschließendem Flug nach Kampala ist alles, was im Kontext der europäischen Geschichte erkennbar, was im Zusammenhang der Kräfteverhältnisse des Zerfalls vom kommunistischen Totalitarismus wiedererkennbar, was im kommunikativen Rahmen einer vernetzten europäischen Umwelt verstehbar ist oder sein könnte, zur Unkenntlichkeit verwischt worden. Gestochen scharf lag das Projekt von Großserbien für jedermann aus der Nachbarschaft da, die traditionell in intensiven Kontakten mit dem Zentrum dieses Projekts, den Belgrader Intellektuellen, stand. Der Führer war klar, die militärische Schicht und die gesamte Struktur und Ideologie einer sich auf Eroberung begebenden Nation ebenso. Die auf den verrotteten und bald darauf durchgebrochenen Brettern der jugoslawischen Bühne fummelnden europäischen Politiker brachten, von Scheinwerfern der Fernsehteams gefolgt, die gesamte Szenerie in unsere Öffentlichkeit, und der kleine Mann in seinem Sofa vor dem Fernseher sah, ohne sich um windige und widersprüchliche Kommentare zu kümmern, was jeder bedeutende Mann auch hätte sehen können: Eine Armada mit perfekter Logistik und allem Drum und Dran der Kriegführung erobert Stück für Stück Land mit allem, was dazugehört, vor und nach der Eroberung.
Diese scharfen Konturen der Sachlage des serbischen Krieges gegen die Westrepubliken des ehemaligen Jugoslawien verwischt Enzensberger mit dem ihm eigenen Sprachkönnen und versenkt das Schiffchen der möglichen Gewissensunruhe im grenzenlosen Meer der Stammes- und Bürgerkriege – irgendwo da unten: Afrika oder Balkan, egal. Ein zeitgenössisches europäisches Phänomen, dessen Ursachen historisch und zeitgeschichtlich vertrauten Bedingungen unterliegen, wird in den afrikanischen Raum angesiedelt, der durch eine andere Geschichte und Kultur geprägt ist und uns im Durchchnitt nur oberflächlich bekannt ist. Und auch wenn wir versuchen, uns die blutigen Ereignisse verschiedener afrikanischer Kriege zu erklären, greifen wir doch am ehesten zur Vorgeschichte des europäischen Imperialismus, den Strukturen des Kolonialismus und seiner Diktate zurück, die die Epoche des Nachkolonialismus geprägt haben. Wir blicken in die europäische Fratze, wenn wir wirklich in die gemarterten Gestalten der afrikanischen Tragödien hineinschauen. Aber wer dort wie genau agiert, können nur Kenner nachvollziehen.
Enzensbergers Ansichtskarte aus Uganda brachte einige – mehr oder minder verschlüsselte – Ratschläge der „Spezialisten für den Bürgerkrieg“; am besten sei es, wenn sich niemand von außen in so eine Sache einmischt, wie eben in Afrika geschehen. „Massakriert haben wir uns schon, bevor die Europäer auf die Idee kamen“, sagte man Enzensberger in Uganda. „Wenn Sie die Ereignisse in Jugoslawien verfolgen, überkommt Sie da nicht eine gewisse Schadenfreude?“ hatte der deutsche Intellektuelle gefragt. Man erfährt von ihm auch, daß die Afrikaner einen großen Vorteil gegenüber den Europäern hätten: Sie seien nicht so gründlich. Damit sollte die Expertenweisheit über das einzig mögliche – grausige – Ende eines Bürgerkrieges etwas abgefedert werden: „Das ist die Erschöpfung.“
Nicht nur einer, der jetzt die Leichen in Ruanda zählt oder einfach über den Daumen schätzt, sondern auch der Zuschauer, der sie in den großen Flüssen Ruandas treiben sieht, wird eine beeindruckende Gründlichkeit im Töten vermuten müssen. Was ist passiert? Es wäre übertrieben zu meinen, Enzensbergers höhnisches Grußwort aus Uganda über das Morden in seiner nächsten europäischen Nachbarschaft könnte etwas – nach der Kausalitätsart der griechischen Tragödie – mit dem Grauen in Ruanda zwei Jahre später haben. Dennoch die Frage: Wäre jetzt eine Ansichtskarte aus Goražde oder Sarajevo nach Kigali angebracht? So als Zeugnis des unterschiedslosen Universalismus des Bürgerkrieges? Oder ganz anders: Ruanda könnte als eine grausame Retourkutsche für denjenigen verstanden werden, der mit Zuhilfenahme der afrikanischen Unübersichtlichkeit im Massenmorden zur Beruhigung des Gewissens bei Nichtstun im europäischen Krieg beitragen wollte. Todesgrüße können aus Kigali und Goražde an jene geschickt werden, die mit großem Fleiß die Rhetorik des Bürger- bzw. Stammeskrieges pflegen und damit ein Phänomen des undurchschaubaren, irrationalen Tötens kreieren wollen, das zufälligen und partikularistischen, aus den Tiefen des Animalischen steigenden Motiven folgen sollte. Dieser „Bürgerkrieg“, der in intellektuellen Köpfen und Leitartikeln stattfindet, ist vor-politisch, eine Art anthropologischer Naturerscheinung. Bei ihm kann es sich nicht um Sachen wie Recht und Unrecht, Unterdrückung und Freiheit handeln. Das Wort „Bürgerkrieg“ will bewußt die klassischen Merkmale des Krieges unkenntlich machen: Es legt sich wie eine bleierne Platte über die Tatsache des Eroberungskrieges und läßt ihn so verschwinden. Die grundlegende Rechtsverletzung ist verschwunden, und geblieben sind dann „Kriegsparteien“.
Man kann so alles zum Bürgerkrieg machen. Es gibt etwa genügend Elemente, mit denen man in Hitlers Eroberungen Aspekte des Bürgerkrieges hineinlegen kann. Oder denkt an die bekannten Thesen Noltes über die Epoche der europäischen Bürgerkriege; da war die Kategorie „Bürgerkrieg“ wenigstens geschichtlich gedacht, wenn auch nicht auf der Höhe des geschichtlichen Ereignisses, weshalb es Nolte passieren konnte, im Vexierbild zwischen „Ersttat“ und „Antwort“ die Orientierung verloren zu haben und zu einem Fanatiker des Relativierens geworden zu sein. Aber der „Bürgerkrieg“ in der Konnotation, in der das Wort seit der Aggression aus Belgrad als intellektuelle Taktik des Abwiegelns vorherrschend ist, zielt auf einen angeblichen Naturzustand, eine geschichtslose conditio humana der Un- oder Halbzivilisiertheit. Demnach sei es ebenso vergeudete Mühe, genauer danach zu schauen, was sich auf dem Kriegsschauplatz im ehemaligen Jugoslawien tut, wie im Falle irgendeines der Kriegsschauplätze in Afrika.
Nur wer diese Heuchelei nicht mitmacht, kann schnell entdecken, daß in Ruanda ebensowenig ein Bürgerkrieg dieser angeblich naturwüchsigen Sorte im Gange ist wie in Bosnien. Die unvorstellbaren Massenmorde sind nicht als eine anthropologische Naturkatastrophe ausgebrochen, sondern haben ihren politischen und ideologischen Hintergrund und verbrecherische Systematik. Auch dort sind nicht kollektive Täter – Stamm gegen Stamm – am blutigen Werk, sondern einzelne Verbrecher. Von ganz weitem und ohne Sachkenntnis können wir dennoch ihre verbrecherische Logik ansatzweise erkennen: die Spannungen zwischen den Volksgruppen auszunützen und sich die Rhetorik des Westens zu eigen zu machen und aus einem Krieg um die Macht einen – per se unbeherrschbaren – „ethnischen Konflikt“ zu machen. Leicht ist dies für jene zu erkennen, denen nicht entgangen war, wie die serbischen Kriegsherren ihren Eroberungszug mit den Namen „Bürgerkrieg“ und „ethnischer Konflikt“ verdeckten. Zumindest in groben Zügen können wir verstehen, was die wenigen überlebenden oppositionellen Politiker – Angehörige der Hutu und der Tutsi – meinen, wenn sie sagen, es handele sich in Ruanda um keinen Stammeskrieg, bei dem man weder Recht noch Rechtsverletzung ausmachen könne.
Nein, ich kenne mich in Ruanda und Afrika nicht aus. Aber ich weiß, daß die besagte Sorte „Bürgerkrieg“, die als rhetorisches Mittel zwecks Ablenkung von Geschehnissen im ehemaligen Jugoslawien im Umlauf ist, eine postmoderne Variante jener Hegelschen Unterscheidung zwischen geschichtlichen und geschichtslosen Völkern ist, die ihrerseits bloß eine geschichtsphilosophische Beschreibung der rassistischen kolonialen und imperialen Praxis der alten europäischen Mächte war. Und demgegenüber weiß ich, daß es ebensowenig geschichtslose wie sprachlose Völker auf diesem Planeten gibt.
Hans Magnus Enzensberger hingegen weiß, daß es sich bei den Kriegen, „die im Namen irgendwelcher Nationalelitenkonflikte ausgetragen werden“, um „Fetzen aus dem historischen Kostümfonds“ handelt – einerseits, und daß „sich unser Land“ andererseits „vom schwersten und langwierigsten Bürgerkrieg“, dem Dreißigjährigen Krieg, „wahrscheinlich nie ganz erholt“ hat (Der Spiegel, 21.6.93). Einerseits Popanz mit Fetzen, andererseits jahrhundertealte Kontinuität des geschichtlichen Schicksalsschlages. Und das ausgerechnet von Enzensberger!
Es ist wahr, mit dem Schreiben, mit den Gerechtigkeit beschwörenden Worten kann man wenig ausrichten. Mit anderen wiederum kann man sehr viel anrichten – wie die kriegbeschwörenden und auch -führenden Schriftsteller auf dem Balkan beweisen. Und nicht nur deshalb kann es nicht als belanglos angesehen werden, ob man richtige oder falsche Worte gebraucht – auch wenn man weit weg vom Ort des Geschehens weilt. Es könnte nämlich sein, daß damit, daß man genau hinschaut, anstatt wegzusehen, das Grauen benennt, anstatt es zu verklären, um die Wahrheit sich müht, auch wenn ihr Höchstes lediglich sein kann, gedruckt zu werden, der kleine letzte Rest Menschenwürde sich bewährt. Dunja Melćić
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