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Ein bißchen Horror und Exotik

■ CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete und Mitglieder des Sozialausschusses begaben sich in die Niederungen von Kreuzberg und Schöneberg - aber nur theoretisch

Wenn CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete zur Wahl des Bundespräsidenten nach Berlin reisen, wollen sie natürlich ein ordentliches Unterhaltungsprogramm geboten bekommen. Ein bißchen Horror, ein bißchen Exotik, aber in kleinen Dosen, dezent in Zahlenmaterial verpackt.

In diesem Sinne erwies sich der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete Jochen Feilcke als glänzender Gastgeber. Dienstag nachmittag lud er ins Kreuzberger Rathaus, und zwölf seiner Parteifreunde sowie Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) und dessen Staatssekretäre folgten. Die aus Niedersachsen, Thüringen, Hessen, Bayern und anderswo herkommenden Konservativen gehören alle dem Bundestagsausschuß für Arbeit und Sozialordnung an. In den weichgepolsterten Sesseln des Kreuzberger Bezirksverordneten- Saales lauschten die schon leicht betagten Damen und Herren im Herzen der Bestie zwei Stunden lang den von Gastgeber Feilcke organisierten Kurzreferaten von sechs Berliner Experten über soziale Probleme. Darunter die Ausländerbeauftragte des Senats, Barbara John, und der Direktor des für Kreuzberg und Schöneberg zuständigen Arbeitsamtes IV, Norbert Grabitz. Jener schien auf dem Podium einziger Nichtinhaber eines CDU-Parteibuches zu sein.

Den theoretischen Spaziergang durch die Niederungen Kreuzbergs und Schönebergs ersparte sich Arbeitsminister Blüm lieber. Nach seiner Begrüßung, die Berliner sollten sich von dem Treffen „keine Wunder“ versprechen, verabschiedete er sich mit einem fröhlichen „isch reise weiter“. Als Trost für seinen Abgang – „das ist kein großer Verlust, weil der Ausschuß für Arbeit im Bundestag die Macht hat“ – ließ er jedoch seine beiden Staatssekretäre da.

Kreuzberg, trieb der Vorsitzende der CDU-Fraktion Kreuzberg, Ralf Olschweski, den Gästen in seinem Referat eine Gänsehaut über den Rücken, „ist der Bezirk der negativen Superlative“: Mit einem „hohen Anteil alleinerziehender Mütter“, mit Einkommen, „weit unter dem Berliner Durchschnitt“, dem höchsten Anteil von Obachlosen und Sozialhilfeempfängern. Der Bezirk sei ein Experimentierfeld für neue Lebensformen, „aber so schlimm, wie im Fernsehen dargestellt, ist es hier nicht“. Der Schöneberger Sozialstadtrat Gerhard Lawrentz (CDU) tat, als ging es auf den Sozialämtern zu wie in der Bronx. „Wir haben regelmäßig die Polizei im Hause, und es gibt Messerstechereien.“ Wie viele Drogenabhängige denn durch eine Erhöhung der Finanzmittel wieder integriert werden könnten, erkundigte sich ein Gast besorgt. Lawrentz' Antwort schien ihn zu befriedigen: Bei 90 Prozent „ist der Zug abgefahren“. Die Aussage von Arbeitsamtsleiter Grabitz, Kreuzberg habe mit annähernd 20 Prozent Arbeitslosen die höchste Quote in Berlin, nahm das Auditorium schweigend hin. Anders, als die Ausländerbeauftragte Barbara John von den 83.000 türkischen Kreuzbergern berichtete und sich über die Bonner Politik beschwerte. Es sei doch blanker Unsinn, empörte sich John, daß nachziehende ausländische Ehegatten in Deutschland vier Jahre keine Arbeits- und Gewerbeerlaubnis bekämen und damit geradezu auf den schwarzen Arbeitsmarkt getrieben würden. Der Obmann der CDU/ CSU des Bonner Arbeitsausschusses, Alexander Warikoff, protestierte entrüstet: Diesem Ansinnen zu folgen würde bedeuten, noch mehr Ausländer anzulocken, was einen „unendlichen Sog von Scheinehen“ zur Folge hätte. Statt dessen, regte Warikoff an, sollte man lieber über eine Beschränkung der Zuzugserlaubnis nachdenken. Barbara John blieb die Antwort nicht schuldig: Damit wäre Deutschland das einzige europäische Land, „das einen Ehegattenzuzug verhindert“.

Gastgeber Feilcke beendete kurzerhand die Debatte und drängte zum Aufbruch. Denn: am Abend waren die Politiker noch bei der Bundesversicherungsanstalt zu Gast – um sich gegen das Chaos zu versichern? Plutonia Plarre

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