: Künftig weniger Praxisbezug
■ Praktischer Unterricht für SchulabgängerInnen gekappt
Praxisbezug in der Schule wirkt motivierend. Auch die ArbeitgeberInnen sehen es gerne, wenn's frühzeitig an die Werkstücke geht. Als deswegen Ende der 70er Jahre die Schulpflicht in Berlin auf zehn Jahre verlängert wurde, entstand das Modell der Berufsbefähigenden Lehrgänge (BB 10): SchülerInnen ohne Hauptschulabschluß besuchen dabei praxisbezogenen Unterricht an einer Berufsschule. Und SonderschülerInnen, die die neunte Klasse erfolgreich abschließen, gehen regelmäßig in das BB 10. Jahr über. An dessen Ende gibt es ein dem Hauptschulabschluß gleichwertiges Zeugnis.
„Die Schüler sind unheimlich wild darauf, praktische Dinge zu machen.“ Jürgen Schummel von der Carl-Legien-Berufsschule in Neukölln weiß um die Beliebtheit der Praxisstunden. Die möglichst nach Wunsch vergebenen Berufsfelder sind „Fächer“ wie Holzbearbeitung, Elektrotechnik oder Landwirtschaft. Sie machen etwa die Hälfte der Stundentafel aus. Der praktische strahlt auch in den übrigen Teil des Unterrichts aus. „Die Theorie-Kollegen können die Schüler besser motivieren, wenn am selben Tag noch Praxisunterricht kommt“, hat Schummel immer wieder erfahren.
Auch für HauptschulabgängerInnen ohne Ausbildungsplatz gibt es seit 1984 in Berlin ein schulisches Ersatzprogramm, das elfte Schuljahr in Form des Vollzeit- Lehrgangs VZ 11. Der Lehrgang wird zudem an Berufsschulen angeboten und ermöglicht, den Hauptschulabschluß nachzuholen oder ihn zu erweitern.
Doch die Lehrstellenknappheit (siehe nebenstehenden Text) gefährdet das schöne Konzept. Um dem erwarteten Ansturm lehrstellenloser Jugendlicher Herr zu werden, wird schlicht die praktische Stundentafel gekürzt. In bestimmten VZ 11-Klassen soll zudem die Betreuung verbessert werden. Auch das kostet Praxisstunden und hat einen Pferdefuß: Um einem Teil der VZ 11 in Kleingruppen zu qualifizieren, sollen BB 10 und andere VZ 11-Klassen Stunden abgeben. Die „Umschichtung“ begründet der zuständige Schulrat Dieter Wittke von der Senatsschulverwaltung mit der leeren Berliner Haushaltskasse: „Mehr Lehrerstellen zu fordern wäre ohne Aussicht auf Erfolg.“
Ab dem nächsten Schuljahr werden also, wenn Wittke die „Umschichtung" verwirklicht, die VZ 11-Lehrgänge statt 16 nur noch 14 Wochenstunden Praxisunterricht umfassen, auch die fachbezogene Theorie wird um zwei Stunden gekürzt. Die BB 10-SchülerInnen sollen von ihren 18 praktischen Stunden sogar vier abgeben.
„Wir haben nichts von dem gekürzt, was den Hauptschulabschluß sichert“, verteidigt Wittke die geplanten Reduzierungen.
Neben dem reinen Verlust an Stunden befürchtet Brigitte Reich von der GEW auch den Motivationsverlust bei den Jugendlichen. Sie, die in der Regel mit der „Kopflastigkeit des Unterrichtsangebotes“ an der Hauptschule nicht klargekommen sind, würden dann möglicherweise an den praxis- freien Tagen die Schule „schwänzen“, befürchtet Reich. Matthias Fink
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