: Das Killer-Kollektiv
Weil es keine zivilgesellschaftliche Mitte gab und gibt, prägten die zwischenmenschlichen Beziehungen das sowjetische System/ Der Homo sovieticus treibt derweil weiter sein Unwesen ■ Von Boris Schumatsky
Noch vor ein paar Jahren hatte man geglaubt, das „Reich des Bösen“ sei erledigt und Rußland kehre endlich in die Familie der zivilisierten Nationen zurück. Stattdessen bietet die russische politische Szene einen trostlosen Anblick: Präsident Jelzin spielt einen stattlichen Conférencier, der sich vergeblich um die Aufmerksamkeit des Publikums bemüht; die politischen Parteien verstehen sich als Gleichgewichtskünstler und proben immer riskantere Nummern; und kürzlich betrat auch Schirinowski die Zirkusarena – in der Rolle eines bösen Clowns.
Warum haben sich die Hoffnungen, die Perestroika weckte, als trügerisch erwiesen? Autorin Sonja Margolina: Weil Rußland nach wie vor eine nichtzivile Gesellschaft sei. „Das Übergewicht des Staates einerseits und die Schwäche der Gesellschaft andererseits“ seien Konstanten der ganzen russischen Geschichte. Dies faßte schon im vorigen Jahrhundert der Historiker Nikolai Klutschewski in sechs Worten zusammen: „Der Staat wuchert, das Volk siecht.“
Sonja Margolina geht in ihrer Gesellschaftsanalyse über diese prägnante wie auch banale Formulierung hinaus. „Zwischen dem sozialistischen Staat und der privaten Sphäre steht nichts, was die divergenten Interessen der Bürger zum Ausdruck bringen könnte. Die zivile Gesellschaft bleibt das ausgeschlossene Dritte. Aus diesem Grund übernimmt die private Sphäre Funktionen, die weit über die menschlichen Beziehungen hinausgehen. Das Wesen der sowjetischen Gesellschaft wurde deshalb in erster Linie durch den Charakter der menschlichen Beziehungen bestimmt.“
Nicht die absolute Herrschaft des Staates, sondern gerade die Beziehungen zwischen den Menschen haben das sowjetische System geprägt. Ausschlaggebend dafür waren nicht zuletzt die besonderen Geschlechterbeziehungen: die autoritäre Frau und der infantile Mann. Sonja Margolina nennt es – bewußt provokant – „das sowjetische Matriarchat“.
Die weibliche Dominanz in der sowjetischen Gesellschaft wird immer öfter von russischen Autoren thematisiert. Der Moskauer Philosoph Michail Ryklin etwa sieht die sowjetische Geschichte als Expansion der Weiblichkeit. Frauen, behauptet er, verfügten über den „gesellschaftlichen Kollektivkörper“. Von Geburt an, über die Erziehung in der Schule bis hin zur beruflichen Weiterbildung und in Zeiten der Krankheit habe das Kind fast ausschließlich mit Frauen zu tun. Die Dominanz der Frauen im Kollektiv verhindere die Individualisierung des Mannes.
Zu Recht wirft Sonja Margolina Ryklins psychoanalytischer Interpretation vor, sie habe die Rolle der Frauen vom soziokulturellen Hintergrund getrennt und deren Prägung von männlichen Ausgangsstereotypen vernachlässigt. Sie betont die Ambivalenz der Frauenrolle und leitet sie von der „Ausrottung der Männer“ während des Bürgerkrieges, Stalinterrors und des Zweiten Weltkrieges ab. Im Laufe der „terroristischen Modernisierung“ Stalins ging „die wachsende Unabhängigkeit der Frau Hand in Hand mit der sozialen Degradierung des Mannes.“
Aber kann der „Männermangel“ allein das seltsame soziale Phänomen erklären, das Margolina so beschreibt: „Frauen blieben die treuesten und gehorsamsten Werkzeuge der herrschenden Männer“? Die Sowjetfrau habe die Unmöglichkeit sozialer Selbstverwirklichung durch ihre repressive Rolle in den menschlichen Beziehungen kompensiert, meint Margolina. „Obwohl die politische Bedeutung der Frauen auf der Entscheidungsebene verschwindend gering war, spielte deren Übergewicht in Kollektiven und in der privaten Sphäre eine außerordentlich wichtige Rolle.“ Diese Argumentation ist aber genauso unzureichend wie das psychoanalytische Modell Ryklins. Sie läßt die Frage nach den sozialen Mechanismen offen, die sowohl Männer wie auch Frauen in ihre Rollen zwingen. Diese Frage wird im Buch von Sonja Margolina nicht gestellt, obwohl es genug erschütternde Beispiele und elegante Interpretationen liefert, um sie zu beantworten.
Die nichtzivile sowjetische Gesellschaft brachte eine ganze Palette von „Überlebenseinheiten“ hervor: all die Intelligenzlercliquen oder intimen Freundeskreise. Westliche Besucher sind immer wieder von der Selbstlosigkeit der „russischen Freundschaften“ und den offenen Gesprächen am Küchentisch begeistert. Dennoch waren die Überlebenseinheiten kein Ersatz für das ausbleibende öffentliche Leben. Sonja Margolina deutet sie als Versuch, „staatlich überwachte Kollektive“ zu verlassen. Aber im wesentlichen unterschieden sich die Freundeskreise gar nicht von den repressiven sowjetischen Kollektiven. Es habe Fälle gegeben, schreibt Margolina, „bei denen eine Ehe nicht zustande kam, weil Braut oder Bräutigam nicht den Vorstellungen der Kommilitonen entsprachen.“
Alle Formen des sozialen Zusammenseins in der UdSSR – einschließlich der Familie – degenerierten zu Kollektiven sowjetischer Prägung. Ein Kollektiv entstand überall, wo auch nur zwei Sowjetmenschen zusammenkamen. Es gab die Kollektive sowohl mit weiblicher als auch mit männlicher Dominanz. Deren Ergebnis heißt Homo sovieticus. Es wäre naiv, wenn nicht rassistisch, die kollektivistische Machtsucht dem Homo sovieticus als einer anthropologischen Spezies zuzuschreiben. Seine Persönlichkeitsstruktur war ein Produkt der tausendjährigen Geschichte der berüchtigten russischen Gemeinschaftlichkeit, die auch die Macht der Bolschewiken geprägt hatte. Das Subjekt – im Sinne der Aufklärung – war unterdrückt und fiel kollektiver Identitätsbildung zum Opfer.
Rußland fehlt weder das Bürgertum noch die middle class, sondern das verantwortliche politische Subjekt. „Nur eine genügende Zahl der Menschen, die bewußt in andere Beziehungen miteinander treten und sie als soziale Tatsachen zu institutionalisieren vermögen“, könne nach der Meinung der Autorin die gesellschaftliche Transformation vollbringen.
Solange aber die Homines sovietici einen darwinistischen Überlebenskampf in ihren Kollektiven führen, wird die „öffentliche Szene in Rußland eine Art Kommunalwohnung darstellen, wo Politiker und Parteien in einem permanenten Skandal leben.“ Die russische Bevölkerung hat offensichtlich immer noch kein Interesse, diesen politischen Zirkus endlich über die Bühne zu bringen.
Sonja Margolina: „Rußland: Die nichtzivile Gesellschaft“. Rororoaktuell Essay, Reinbek bei Hamburg 1994, 220 S., 18 Mark
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