: Der Niedergang des „großen Schriftstellers“
■ Die rückwärtsgewandte Vision des Alexander Solschenizyn könnte leicht zu Wasser auf die Mühlen der russischen Nationalisten und Neofaschisten werden
Während seiner ersten Lagerhaft erkrankte der spätere Autor des „Archipel Gulag“ an Krebs. Dieses Todesurteil des Schicksals war noch härter als das Urteil der Sowjetmacht, die den jungen Hauptmann der Roten Armee nach dem Ende des Krieges 1945 wegen abfälliger Bemerkungen über Stalin in den Gulag schickte. Mit einem großen Geschwulst im Magen kam Solschenizyn in eine „Krebsstation“ (1966 in dem gleichnamigen Roman beschrieben), um dort zu sterben. Die Chirurgen aber retteten sein Leben. War es ein Wunder? Ein Zeichen? War er erwählt, eine Mission zu erfüllen? Auf jeden Fall scheint es der Zeitpunkt gewesen zu sein, an dem sich das Leben des Häftlings Nr.282 grundsätzlich änderte. Aus der Verbannung in Kasachstan kehrte damals kein angehender Autor nach Rußland zurück, sondern der einsame Kämpfer gegen die Statthalter der Sowjetmacht.
In seinen Erinnerungen „Die Eiche und das Kalb“ (1975) schrieb Solschenizyn von seinen Romanen wie von „Bomben“, die er für diese Machthaber bereitete: „Hätten sie nur gewußt, was für ,Geschenke‘ ich für sie habe!“ Die russischen Revolutionäre, die echte Bomben warfen, schrieben im gleichem Ton von ihren „Geschenken für die Regierung“. Als Illegaler kämpfte Solschenizyn allein gegen die kommunistische Supermacht – wie die russischen Revolutionäre gegen die Zaren.
Im „Roten Rad“, seinem abgebrochenen Lebenswerk, klagt Solschenizyn die Bolschewiken an, sie hätten das russische Volk mißbraucht und verdorben. Aber auch in seinen eigenen Schriften wird das russische Volk instrumentalisiert. Die russischen Revolutionäre träumten von der neuen Welt des Kommunismus. Solschenizyn schwärmt von Wiederkehr des alten heiligen Rus.
Die Utopia vom alten heiligen Rus
Statt utopische Visionen der kommunistischen Zukunft führt er eine utopische Vision der Vergangenheit ins Gefecht. Seine „Utopia“ ist der russische Staat vor den „seelenlosen“ Reformen Peter des Großen, der die „Ausrottung und Unterdrückung des nationalen Geistes eingeleitet hat“. Solschenizyns Antikommunismus schlägt teilweise in eine neue autoritäre Ideologie um, in einen orthodoxen Autoritarismus, der möglicherweise noch härter als der kommunistische ist. Seine Schriften sind für ihn lediglich ein Mittel, diese nationalistische Vision zu verwirklichen. Die Instrumentalisierung der Literatur ist sogar in seinen frühesten und literarisch besten Werken spürbar, der Darstellung eines Arbeitslagers in „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ und der Dorferzählung „Matrjonas Hof“ (1962). Diese mit persönlicher Erlaubnis Chruschtschows erschienenen Schriften leben vom Gedankengut der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Die Lobpreisung des „einfachen Menschen“ – obwohl es sich in beiden Erzählungen um versklavte Leute handelt – zeigt, was für ein Leitbild er hat: keine selbständige Persönlichkeit, sondern ein kollektivistischer Massenmensch, ja ein Leibeigener. Diesen Archetyp übernahm Solschenizyn von Tolstoi und Dostojewski. Die historische Erfahrung des Nationalsozialismus und Stalinismus, die sich auf diese „autoritäre Persönlichkeit“ stützten, reflektierte Solschenizyn paradoxerweise gar nicht.
Tief in den amerikanischen Wäldern, mit der ganzen Power der US Army geschützt, hinter Stacheldraht und Videoüberwachung, konnte Solschenizyn die Illusion erhalten, als neuer Leo Tolstoi in seinem Landgut Jasnaja Poljana den richtigen Weg für Rußland zu suchen. Solschenizyn will um jeden Preis seine Identität des „großen Schriftstellers“ beibehalten, „der allein die Werte aller trägt, sich dem Souverän oder der Ungerechtigkeit der Regierenden widersetzt und seinen Schrei bis in die Unendlichkeit hinein erklingen läßt“. Michel Foucault sprach davon 1976, im gleichen Jahr, als Solschenizyn „Der Archipel Gulag“ veröffentlichte. „Heute“, konstatiert Foucault, „erleben wir das Abtreten des großen Schriftstellers.“
Der letzte „große Schriftsteller“ Solschenizyn verliert den Boden unter den Füßen. Seine Visionen vom „eigenen Weg“ des Russischen Reiches sind längst überholt von der Wirklichkeit. Kaum jemand in Rußland will Solschenizyns Anweisungen, „Wie wir Rußland einrichten sollen“, folgen. Die Russen, die zur Zeit ihre gesamte Kraft für die Bewältigung des Alltags brauchen, zeigen keinerlei Interesse für Solschenizyns Ideale von christlicher Demut, Güte und Moral. Allein sein nationalistischer Mythos kann in Rußland einen Widerhall finden, und zwar bei den extremistischen Bewegungen wie der Partei Schirinowskis oder der berühmt-berüchtigten „Pamjat“. Falls der Dichter sich tatsächlich politisch einmischen wird, läuft er Gefahr, von den skrupellosen russischen Nationalisten und Protofaschisten benutzt zu werden. Boris Schumatzky
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