piwik no script img

„Eine Spur von Haß zieht durch Deutschland“

■ Zehntausend bei Solingen-Gedenkfeier / Giordano verurteilt staatliche „Passivität“

Solingen (taz/AFP) – Der Schriftsteller Ralph Giordano traf die Gefühle der 10.000 Demonstranten in der Solinger Innenstadt genau: Es habe nur zu der andauernden Bedrohung von Minderheiten kommen können, weil „der Staat gegenüber der epidemischen Ausbreitung der Gewalt von rechts Passivität an den Tag“ lege, sagte Giordano bei der Enthüllung eines Mahnmals für die fünf Türkinnen, die vor einem Jahr Opfer des Solinger Brandanschlags geworden waren. Diese „weichliche Haltung“ des Staates gegenüber dem Rechtsextremismus sei das „eigentlich Schockierende“, sagte Giordano weiter – Worte, die nach „all den Floskeln“, so ein Zuhörer, „wie eine Erlösung“ wirkten.

Das Mahnmal steht an der Mildred- Scheel-Schule in Solingen, in die die neunjährige Hülya Genc, eine der am 29. Mai 1993 Getöteten, gegangen war. Zwischen dem niedergebrannten Haus der türkischen Familie Genc und der Schule hatten zuvor mehrere tausend Demonstranten eine Menschenkette gebildet. Im Kampf gegen „Linksterroristen“ habe der Staat in der Vergangenheit stets auf sein Gewaltmonopol gepocht und es auch angewendet, sagte Giordano weiter. „Nun jedoch, als es um die Unversehrtheit von Schwachen ging, da war das gleiche Gewaltmonopol nicht nur nicht anwesend, wie jüngst wieder in Magdeburg, sondern auch dabei, sich zurückzuziehen wie in Rostock, oder gar dem Nazi-Mob noch Begleitschutz zu geben wie in Fulda“, so der Schriftsteller.

Insgesamt haben mehr als 14.000 Menschen am Wochenende in Solingen der fünf Todesopfer des Brandanschlags gedacht. 10.000 Solinger versammelten sich am Sonntag zu einem Schweigemarsch und bildeten anschließend eine Menschenkette in der Innenstadt. Bereits am Samstag hatten mehr als 4.000 Menschen gegen Rassismus und Faschismus demonstriert. Auch in anderen deutschen Städten gab es Kundgebungen zum Gedenken an die fünf Türkinnen, die bei dem Brandanschlag ums Leben gekommen waren. Bei der offiziellen Trauerfeier am Sonntag morgen forderte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) eine Reform des Staatsbürgerrechts. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, sprach sich für eine unnachsichtige Strafverfolgung rechter Gewalttäter aus.

Rau sagte, die Reform des Staatsbürgerrechts sei „längst überfällig, damit Menschen nicht wegen ihrer Herkunft Bürger zweiter Klasse bleiben und deshalb auch allzu oft als Menschen zweiter Klasse behandelt werden“. Durch die Bundesrepublik führe „eine Spur von Haß und Gewalt gegen Fremde“. Seite 4, Dokumentation der Rede Giordanos Seite 10

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen