: Universeller Bilderforscher
■ Zwei Ausstellungen von Aby M. Warburg im Kunsthaus und Planetarium
Hamburgs legendärer Geisteswissenschaftler ist der 1866 in Hamburg geborene, 1929 hier gestorbene Aby Warburg. Der jüdische Kulturwissenschaftler entwickelte sich, ausgestattet mit dem Geld seiner Bankiersbrüder, zum Gelehrten mit universalem Anspruch, der die Abläufe und die Struktur des Bildgedächtnisses der Menschheit aufzuschlüsseln versuchte. An zwei Orten der Stadt werden jetzt seine Gedankensysteme sichtbar: themenbezogen im Planetarium und als unvollendetes Material im Kunsthaus.
Auf dem Tropfboden des Planetariums kommt unter dem alten, genieteten Wasserbehälter das Gefühl auf, dem Titanen Atlas selbst beim Tragen der raumfüllenden kosmischen Kugel zuzuschauen. Hier im fünften Stock des Turmes wurde die „Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde“ rekonstruiert, die Aby Warburg noch selbst zusammengestellt hatte. Sie war, damals in den unteren Umgangsräumen, seit dem 15. April 1930 fester Bestandteil des didaktischen Konzepts des Planetariums.
Eingeleitet von dem Gemälde des Sohnes Max Adolf Warburg, das verschiedene Weisen der Sternbetrachtung symbolisiert, wird anhand von Modellen, Zeichnungen und Reproduktionen der Wandel der Himmelsvorstellungen veranschaulicht: von antiken Göttergestalten über die magischen Praktiken mittelalterlicher Astrologie bis hin zur mathematischen Schönheit neuzeitlicher Planetenbahnen.
Und immer öffnet sich ein Bogen zum übrigen Gedankensystem des Kulturforschers: Die geografische Wanderung uralter Sternvorstellungen war es, mit der Warburg die rätselhaften Frührenaissance-Fresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara 1912 erstmalig erschließen konnte. Dies gilt heute als Geburtsstunde der Ikonologie.
Warburgs Spuren in Hamburg werden erst seit kurzem wieder geschätzt: 1987 wurden wesentliche Teile der verschollen geglaubten Sammlung zum Sternenglauben wiederentdeckt, aufgearbeitet und vor der jetzigen Neueinrichtung in Wien und Berlin gezeigt. 1993 wurde in Hamburg die Aby-Warburg-Stiftung gegründet. Das ab 1933 als Büro benutzte Bibliotheksgebäude in der Heilwigstrasse wurde im selben Jahr von der Stadt angekauft.
Ein völliges Eintauchen in die Vorstellungswelt Aby Warburgs bietet das Kunsthaus mit der Ausstellung Mnemosyne. Vor 1933 wurde das umfangreiche, unvollendete Arbeitsmaterial fotografisch dokumentiert. Jetzt wurde durch 1200 Fotos auf 63 schwarzen Pinntafeln der „Bildatlas“ Warburgs rekonstruiert, mit dem sich der Gelehrte das Fortleben antiker Bildwelten erschloß. So werden Wanderungen von der Bildidee der antiken Flußgötter zu Manets „Frühstück im Grünen“ unmittelbar anschaulich. Mehr Methode als Ergebnis bleibt für die Kunsthistoriker das innere System des unvollendeten Bildatlasses. Ob sich das visuelle Gesamtgedächtnis der Menschheit, über sich selbst erschließende Anregungen hinaus, auch zum diskursiven Denken eignet, bleibt offen. Warburg selbst trieb die überwältigende Vielfalt der Bilder für einige Jahre in die Nervenheilanstalt.
Zur Verzweiflung treiben heute mehr die Streitereien derjenigen, die sich zu Warburgs Erben berufen fühlen. Mit dem Londoner Warburg Institute als Schiedsrichter ist eine unschöne Auseinandersetzung um Rechte entbrannt. So darf der Hamburger Verlag Dölling und Galitz die Reproduktion der 63 Tafeln nicht als Buch herausgeben, sondern nur während der Ausstellungswochenanbieten. Das Kunstgeschicht-liche Seminar jedoch hat sich mit einer internationalen Herausgebergruppe alle Rechte für die nächsten Jahre gesichert.
Hajo Schiff
Fotos: „Mnemosyne-Atlas“, Tafel 39, Bilder von Botticelli
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