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Von Aal bis Zyssmann

■ Dokument eines Versuchs wider die Feigheit: Nachdruck des „Jüdischen Adreßbuchs“ für Berlin von 1931

Ein gedrucktes Denkmal: Im Verlag arani ist ein Nachdruck des „Jüdischen Adressbuches“ für Berlin von 1931 erschienen. „Urbach, Valerie, Charlottenburg, Krumme Straße 56.“ Zwei Zeilen in einem Adressbuch von 1931 – die Spur eines Menschen. Sie endet in Majdanek: Urbach, Valeria, Wohnort Berlin, geboren 25.12. 1882, verschollen Majdanek/Lublin. So der Eintrag im „Gedenkbuch für die Opfer der Verfolgung der Juden“ von 1986.

Dem kleinen Berliner Verlag arani ist es zu verdanken, daß mit dem Nachdruck des „Jüdischen Adressbuches für Groß-Berlin“ in der Ausgabe von 1931 an das Schicksal einer der größten jüdischen Gemeinden Europas erinnert wird. 1929 erschien das Adressbuch zum ersten Mal, zwei Jahre später folgte eine erweiterte Auflage. Weitere Ausgaben waren wohl geplant, denn das Titelblatt trägt den Hinweis: „Gültig bis Mitte 1932“. Doch das Verzeichnis wurde zum letzten derartigen Zeugnis für die, die der Shoah zum Opfer fielen.

In einer Zeit wachsender Anfeindung sollte das Adressbuch den Berliner Juden ein Gefühl der Zusammengehörigkeit geben, einen „geistigen Mittelpunkt schaffen“ und eine „verbindende Kraft“ spürbar machen, so schreibt die Redaktion im Vorwort der ersten Ausgabe. Ein Versuch der Selbstbesinnung auf die jüdische Tradition und Religion, bei dem aber auch pragmatische Erwägungen eine Rolle spielten. „Die Feinde des Judentums schrecken vor nichts zurück“, heißt es im Vorwort. „Sollen wir in einer solchen Zeit feige uns ducken und unsere Art verleugnen? ... Wir wollten ein Buch für die Praxis schaffen, dazu bestimmt, denjenigen, die mit jüdischen Angelegenheiten zu tun haben, die Feststellung zu erleichtern, wer Jude ist und wer es nicht ist.“

Mit der Veröffentlichung sollte eine Brücke zur „nichtjüdischen Welt“ gebaut werden. Diese Hoffnung teilten nicht alle; auch Vorbehalte gab es gegen das Adressbuch, wie Hermann Simon, Direktor des „Centrum Judaicum“, in seinem Vorwort zum Reprint schreibt. Juden, die sich nicht mehr als solche betrachteten, fürchteten, durch das Buch als Juden gekennzeichnet und damit stigmatisiert zu werden. Wie die Liste der Namen und Anschriften zustande kam, ist nicht bekannt.

Dieser Nachdruck ist nicht nur ein Quellenwerk für Historiker. Die endlosen Reihen der Namen fordern zu Fragen heraus: 450 Seiten mit jeweils etwa 160 Adressen, von Hermann Aal, Lidauer Straße 4/5, bis Abraham Zyssmann aus dem Scheunenviertel – das Buch dokumentiert, wie viele Berliner eine jüdische Familie in der Nachbarschaft hatten, Wand an Wand mit den Abrahams, den Cohns und den Levys wohnten. Wem begegnete Valerie Urbach auf der Treppe am Tag ihrer Deportation? Wer behandelte die Patienten von Dr. Paul Berlin, Zahnarzt in der Bismarckstraße 66, nachdem er deportiert worden war? Wer saß am Schreibtisch der Büroleiterin Frieda Isakowitz?

Der redaktionelle Teil des Verzeichnisses gibt Auskunft über die Jüdische Gemeinde, ihre Repräsentanten und Rabbiner, ihre Verwaltungsstellen und sozialen Einrichtungen. Er enthält Abschnitte über jüdische Vereine und Organisationen. Fast jeder Zweck hatte einen eigenen Verein: die „Wohltätigkeit“, Jugendfürsorge, Kultur, der Aufbau Palästinas und natürlich den Sport. Im „Jüdischen Boxklub Makkabi e.V.“ wurde die „jüdische Jugend durch Boxen, Ringen, Körperkultur ertüchtigt“, der „Jüdische Turnverein Berlin 1905“ bezweckte „die Pflege des deutschen Turnens“. Und ein gewisser „Dr. E. Bloch“ war Mitglied des Zentralkomitees der „Jüdischen Sozialdemokratischen Arbeiterorganisation Poale Zion“.

Ein Artikel gibt Ratschläge zur Berufswahl während der Rezession, deren Auswirkungen die Juden besonders traf. Außerdem werden „hervorragende jüdische Persönlichkeiten“, unter ihnen Albert Einstein und Alfred Döblin, vorgestellt, um den „gesunden Ehrgeiz zu schärfen“. Theodor Wolff, Chefredakteur des Berliner Tageblattes wird genannt. Er starb 1943 an den Folgen der KZ-Haft.

Dieses Adressbuch mit „Serviceteil“, Geschäftsanzeigen und dem Jahresbericht der Jüdischen Gemeinde für 1930 ist eine Fundgrube für das Aufstöbern berühmter Namen. Beim Blättern stößt man auf Max Liebermann und Samuel Fischer, den führenden Repräsentanten des deutschen Judentums Leo Baeck, Fritz Kortner, Walter Benjamin – und Erich Mühsam, der in der Dörchläuchtingstraße 48 in Britz wohnte und im KZ Oranienburg ermordet wurde. Aber die Namhaften sind in diesem Buch in einer endlosen Buchstabenreihe mit den „Namenlosen“ verbunden. Professor Max Liebermann vom Pariser Platz steht auf gleicher Höhe mit Emilie Liebenbaum aus der Kufsteiner Straße. Emilie Liebenbaum? Schloma Salomon Rojt? Leo Gerlowin? Es gibt keine Frau Liebenbaum, keinen Herrn Rojt, keine Familie Gerlowin mehr in Berlin. Deshalb ist der Nachdruck eines Jüdischen Adressbuches von 1931 ein „Denkmal“: Jenen, deren Namen vergessen sind, deren Gräber nicht existieren, deren Gedächtnis niemand bewahrt, wird damit ein Ort gegeben. Zwei Zeilen – eine Spur. Stephan Schurr

Jüdisches Adressbuch für Groß- Berlin. Ausgabe 1931. Mit einem Vorwort von Hermann Simon. 595 Seiten, arani-Verlag Berlin, 168 DM.

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