: 96 Prozent für Horn
■ Sozialist bald Ungarns Staatschef?
Budapest (taz) – Die ungarischen Sozialisten geben sich derzeit große Mühe, den über sie kursierenden Klischees gerecht zu werden. Auf ihrer Delegiertenversammlung am Sonnabend in Budapest sprach MSZP-Parteichef Gyula Horn seine Parteikollegen vor laufenden Kameras mit „Genossen“ an. Das Ergebnis, mit dem der einstige Kommunist als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten gewählt wurde, lag nur um drei Prozent unter der gewohnten Einmütigkeit früherer Zeiten: Mehr als 96 Prozent der Delegierten stimmten für Horn. Auch das Koalitionsangebot, das die Sozialisten dem liberalen „Bund Freier Demokraten“ (SZDSZ) offiziell unterbreiteten, befürworteten die Delegierten mit überwältigender Mehrheit.
Dabei betonten Horn und andere Parteileiter fortlaufend, wie demokratisch diese Entscheidungen gewesen und wie demokratisch die MSZP überhaupt sei. Umfassend seien alle Parteimitglieder befragt worden, bevor man sich entschlossen habe, Horn zu nominieren. Man halte ihn danach für den „geeignetsten, zur Integration am fähigsten“ Regierungschef. „Nicht ich habe mich für diesen Posten gemeldet“, fügte Horn zweckbescheiden hinzu, „sondern die Delegierten.“
Die als so unvermeidlich dargestellte Kandidatur Horns als Regierungschef hat freilich auch handfeste Hintergründe. Im parteiinternen Konflikt zwischen dem liberalen MSZP-Wirtschaftspolitiker Lászlo Békesi und dem ex- kommunistischen Gewerkschaftsführer Sándor Nagy spielt der Sozialisten-Chef die Rolle des integrierenden Zentristen. Das um so mehr, als der Konflikt sich ausweitet. Békesi hat erklärt, ohne eine Koalition mit dem liberalen „Bund Freier Demokraten“ (SZDSZ) sei das MSZP-Wirtschaftsreformprogramm nicht durchzusetzen, folglich werde er in einer nur von der MSZP gebildeten Regierung kein Amt übernehmen. Gewerkschaftsführer Nagy hingegen beharrt darauf, die Wähler hätten für eine sozialdemokratische Politik gestimmt, nicht für einen liberalen Verschnitt.
Als geeigneter Kandidat muß sich Horn auch dem SZDSZ präsentieren. Auf Vorbehalte stößt Horn bei den Freidemokraten unter anderem wegen seiner Rolle in der Revolution von 1956, während der er als Soldat des Staatssicherheites diente. Auf dem Kongreß vom Sonnabend machte Horn allerdings klar, daß seine Person während der Koalitionsverhandlungen kein Diskussionsthema sein werde.
Zwar werden die Freidemokraten aller Wahrscheinlichkeit nach bereits in dieser Woche Verhandlungen mit der MSZP beginnen, dennoch ist über die Bildung einer gemeinsamen Regierung noch nicht einmal eine Vorentscheidung gefallen. SZDSZ-Chef Iván Petö bemerkte dazu, die Wähler würden sich von seiner Partei abwenden, wenn die Sozialisten die Illusionen und unbegründeten Erwartungen gegenüber ihnen nicht erfüllen könnten. Keno Verseck
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