: Eine „fröhliche Wissenschaft“?
■ Rainer Herrn, Mitarbeiter der Hirschfeld-Gesellschaft, über die Sexualwissenschaft heute / „Teilnehmende Beobachtung“
taz: Was macht die Hirschfeld- Gesellschaft?
Rainer Herrn: Im Moment stecken wir all unsere Arbeit in die Ausstellung „75 Jahre Institut für Sexualwissenschaft“. Um selber zu forschen oder Beratung anzubieten sind wir leider viel zu klein. Wir wollen aber dazu beitragen, ein neues Forschungsinstitut zu gründen.
Was gibt es heute noch zu erforschen?
Eine spannende Frage wäre, wie Geschlechtlichkeit sozial konstruiert wird, wie Geschlechtlichkeit entsteht, wie sich nichtgeschlechtskonforme Abweichungen entwickeln. Dann gibt es noch den Ansatz der teilnehmenden Beobachtung. Das heißt, daß sich die WissenschaftlerInnen selbst auf eine sexuelle Situation einlassen und dann versuchen, die Verhaltensweisen und Rituale zu beschreiben.
Was heißt einlassen? Machen die WissenschaftlerInnen dann munter mit, oder kneifen sie, wenn es ernst wird?
Teilnehmende Beobachtung heißt schon, aktiv mitzumachen. Das sollte aber nicht so weit gehen, daß man gar nicht mehr in der Lage ist, das Erfahrene zu erfassen.
Also keine ekstatischen Erlebnisse im Dienst?
Dann wird es schwierig mit der Beschreibung. Kann natürlich auch sein, daß der Prinz oder die Prinzessin vorbeikommt. Da kann es schon heißen: „Scheiß was auf die Wissenschaft.“
Klingt nach fröhlicher Wissenschaft! Und wo liegen die methodologischen Vorteile gegenüber der herkömmlichen Empirie?
Teilnehmende Beobachtung ist durchaus ernstzunehmen und kann eine Menge Erkenntnisse bescheren. Es werden keine Fliegenbeine gezählt, sondern es wird gefragt, wie laufen sexuelle Situationen ab. Es ist menschlicher, vom Abstrakten wegzukommen und stattdessen konkret über Sexualität zu sprechen. Es lassen sich dadurch auch Aussagen über Machtverhältnisse in sexuellen Begegnungen machen. Und man kann Vorurteilen begegnen. Beispiel Sado-Masochismus: Wenn man genau hinguckt, stellt man fest, daß S/M nicht brutal ist, sondern daß die PartnerInnen sehr verantwortungsvoll und sensibel miteinander umgehen und daß Vertrauen eine große Rolle spielt.
Derartige Beschreibungen können aber auch zur Stigmatisierung von Gruppen beitragen.
Das ist immer eine Gefahr. Solche Veröffentlichungen können natürlich schon bewirken, daß die Leute denken, „pfui, das machen sie nun diese Perversen“.
Die Vergangenheit hat gezeigt, daß das Beschreiben von Sexualität auch mit Kontrolle und Machtausübung verbunden ist.
Die Sexualwissenschaft kommt aus der Medizin, aus der Biologie und auch aus der Psychiatrie. Diese Disziplinen haben ziemlich viel Definitionsmacht. In einem sexualwissenschaftlichen Institut müßten gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Disziplinen ein ganz wichtiges Standbein haben.
Um welche Perspektive würden diese den medizinisch-biologischen Blick erweitern?
Die Medizin neigt eher dazu, Sexualität als etwas Natürliches, immer zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften Dagewesenes zu sehen. Die Sozialwissenschaften begreifen Sexualität eher als etwas Gewordenes, gesellschaftlich Konstruiertes. Ein Austausch zwischen beiden Blickwinkeln könnte sehr spannend sein.
Wie sieht es mit dem Austausch zwischen den Geschlechtern aus? Arbeiten bei Ihnen eigentlich nur Männer?
Bis auf eine Archivarin, ja. Wir haben händeringend nach einer Kollegin gesucht, aber nur Körbe bekommen. Vielleicht, weil unser Thema zu schwulenorientiert ist.
Es scheint, als sei das Reden über Sexualität nach wie vor eine Männerdomäne.
Möglicherweise wieder. Ich glaube, daß besonders in den siebziger Jahren, wo auch die Frauenbewegung stark geworden ist, durchaus Sexualität von Frauen von Frauen thematisiert wurde.Allgemein gesehen wird die Sexualität von Frauen immer noch häufig wie eine Art Appendix behandelt. Wenn wir zum Beispiel den Diskurs über Homosexualität der letzten Jahre verfolgen: da geht es vor allem um Schwule, und Lesben tauchen dann hin und wieder auch mal auf. Die Macht der Männer beinhaltet auch eine Befugnis, über Sexualität zu reden. Wenn eine Frau über Lesben forschen und die Ergebnisse dann einfach auf Schwule übertragen würde, würden wir uns wehren. Denn das wäre ja einfach unwissenschaftlich. Interview: Sonja Schock
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