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Wer erfindet wen?

Den Beobachter beobachten. Toni Morrison und Jean-Paul Sartre über belagerte Minderheiten  ■ Von Mariam Niroumand

In den siebziger Jahren geisterte eine Zeitlang ein beunruhigendes Bild durch die Filmtheorie: Was passiert, wenn die Angeschauten da oben auf der Leinwand einmal zurückschauen, wenn sie die Projektionslinien verkehren und dich, in deinem dunklen Königsthron, aus der Trance aufstören, wenn eure Blicke sich plötzlich treffen?

Über die paar Beispiele solcher Blickkontakte in der Filmgeschichte konnten auch jene erschauern, denen die French Boys in der Theorie sonst relativ gestohlen bleiben konnten; irgendwie war klar, bei der banalen Frage, wer wen ansieht, ging es um nackte, grinsende Macht.

Toni Morrison hat die amerikanische Literaturgeschichte angeschaut, als betrachte sie sie von einer Leinwand aus, schwer behangen wie ein Christbaum mit dem Wunschmaterial, das auch ihr, der schwarzen Frau, aus dem Auditorium entgegengekommen war. Die sich da im Dunklen wähnten, die Melvilles, Poes und Hemingways, die Frontiers Men und ihre Erzähler sehen sich plötzlich, höflich, aber bestimmt, aus akademischer Position angestrahlt. Morrison hat untersucht, welche Funktion das hatte, was sie eine „afrikanische Präsenz, eine Persona“ nennt, warum sie unter bestimmten Umständen in der weißen Kultur nicht nur auftaucht, sondern sie trägt.

„Im Dunkeln spielen“ heißt die deutsche Übersetzung einer Sammlung von Essays, die aus Vorlesungen in Princeton entstanden. An ihnen sieht man, warum es womöglich notwendig war, den Kampf gegen einen weißen Literaturkanon mitunter durch Gesetzescodes zu forcieren: Hier ist eine Autorin, die die Gelassenheit aufbringt, Hemingway nur noch als „Material“ zu betrachten, aber auch eine souveräne Wertschätzung für William Faulkner. Und diese schreibende Professorin hatte vor zwanzig Jahren noch höchstens einen „Quotenjob“.

„Mein Projekt entspringt dem Entzücken, nicht der Enttäuschung“, schickt Morrison vorsichtshalber voraus. „Transparent wurden dabei die offensichtlichen Wege, die Amerikaner wählen, um mit Hilfe und innerhalb einer manchmal allegorischen, manchmal metaphorischen, aber immer gedämpften Darstellung einer afrikanistischen Präsenz über sich selbst zu sprechen.“

Über sich selbst sprechen ... Ein besonders schöner Coup gelingt Toni Morrison in der Betrachtung eines Romans von Willa Cather, „Sapphira und die Sklavin“, der bislang ein recht jämmerliches Dasein in der Literaturkritik fristen mußte. Sapphira ist eine weiße Invalidin, eine Farmerin, die ihren Mann, Mister Colbert, verdächtigt, ein Verhältnis mit der jungen Nancy zu haben, der Tochter ihrer treuesten Sklavin.

Ersatzkörper

Cather läßt ihre Leser keinen Augenblick im unklaren, daß da nichts läuft: Massa Colbert ist von beschränktem Draufgängertum, Nancy ein Ausbund biblischer Reinheit. Sapphiras Phantasien aber blühen und gedeihen. Schließlich heuert sie einen lüsternen Neffen namens Martin an, der Nancy verführen/ vergewaltigen und ihr, Sapphira, auf diese Art die Aufmerksamkeit ihres Mannes wieder zuführen soll. Sapphiras Tochter Rachel aber, eine Abolitionistin, ermöglicht Nancy die Flucht in den Norden. Morrison findet allerlei blinde Stellen im Plot, stimmlose Charaktere, grobe Realitätsbeugungen, die alle einen Sinn haben: Sapphira „entzieht sich der Notwendigkeit, ihren eigenen Körper zu bewohnen, indem sie sich auf die junge, sexuell appetitanregende Nancy stützt ... Die schwarzen Ersatzkörper werden ihre Hände und Füße, Gegenstand ihrer Phantasien von sexueller Lust und Intimität mit ihrem Mann und – nicht unwesentlich – ihre einzige Quelle der Liebe.“

Nun geht es beileibe nicht nur um häusliche, den eigenen Körper betreffende Projektionen. Was das entstehende Amerika betrifft, den frühen Abenteuerroman, das Schauerromantische, sieht Morrison nicht den Wunsch am Werk, sich der Geschichte zu entledigen, um weiß und unbeschrieben neu anzufangen. Sie sieht darin eine Möglichkeit, am Beispiel der schwarzen Urbevölkerung über die Angst der europäischen Outcasts vor dem Ausgestoßensein, der großen Einsamkeit, der Grenzenlosigkeit dunklen Begehrens, der „ungezähmten Natur, die sich zum Angriff duckt“, zu sprechen. Die besorgniserregende Kernthese dieses Essays ist, daß es gerade die Aufklärer, daß es gerade diejenigen waren, die nach Freiheit strebten, die eine Sklavenbevölkerung zur eigenen Selbstvergewisserung brauchten. Das weiße 18. und 19. Jahrhundert Amerikas erlebt sich nicht als „blinder Zufall der Evolution, sondern als fortschrittliche Erfüllung eines Schicksals“, als modern im Gegensatz zu atavistisch, als sprachbegabt statt stammelnd, als das Allgemeine im Gegensatz zum Besonderen.

Und während Morrison dem Nigger Jim ins Dunkle hinterherläuft, ruft sie noch über die Schulter, daß sie in jedem Buch immer mehr verschwiegenen Text findet, es ihr nicht darum geht, Poe & Co, die Lieblinge der Postmoderne, zum Schweigen zu bringen. Aber sie will sich aus der Position der Beschriebenen in die der Beschreibenden hinüberretten und fordert die Literaturwissenschaft auf, sich mit ihrer Höflichkeit zum Teufel zu scheren.

In gewisser Weise war Jean- Paul Sartres Projekt damals, 1944, als er an seinen „Überlegungen zur Judenfrage“ schrieb, Morrisons nicht unähnlich. Auch hier ging es um die Blickgewalt, die Macht der Konstruktion, um das Wer-erfindet-wen, die Beschreibung des Belagerungszustands einer für die Phantasie und die Ökonomie eines Landes unentbehrlichen Minderheit – aber Sartres Ratschluß ist ein aufregend anderer.

Sartre, der im Gegensatz zu Toni Morrison den Nobelpreis, als er ihm 1964 angeboten wurde, ablehnte, hatte die Ideen zu diesem höchst einflußreichen Essay während seiner Zeit als Soldat im drôle de guerre gesammelt, in der Zeit um 1939, als sich Deutsche und Franzosen mehrere Monate fast friedlich gegenüberlagen.

Roh oder gekocht

Im Schützengraben war er auf einen Juden getroffen, dessen Verhaltensweise er später „unauthentisch“ nennen sollte. Ein paar Jahre danach bejubelte man in Frankreich allenthalben die Befreiung, aber niemand verlor ein Wort über die Juden. Die aus dem Osten zurückkamen, trafen auf ein gespenstisches Schweigen, eine Mischung aus Hostilität und Scham.

In dieser Situation wirkte Sartres Essay wie ein geöffnetes Fenster; noch Jahre später hat er, von Claude Lanzmann etwa, Dankesbezeugungen für diesen „Befreiungsschlag“ bekommen.

Im ersten Teil beschreibt Sartre, wie es wohl auch Morrison tun würde, den Antisemiten als jemanden, der den Juden erfinden müßte, wenn es ihn nicht schon gäbe – so dringend braucht er ihn. Er braucht ihn als Idee, sein manichäisches Weltbild zu stützen, Weltbild und Leidenschaft zu vereinigen wie mit keiner anderen Ideologie; er braucht ihn, um die große, mythische Synthese gegen die zersetzende Analyse zu stellen; er braucht ihn auch wie jener Protestant, den Sartre dabei beobachtete, wie er täglich ins Schwimmbad ging, um sich über die Badeanzüge der Frauen zu entrüsten. Auch hier wieder, wie bei den Weißen in Morrisons Essay, ist ein sexuelles Begehren im Spiel, das dem Vernichtungswillen erstaunlich nah ist. Obwohl einige grobe Vereinfachungen und fromme Wünsche darin enthalten sind (Arbeiter sind keine Antisemiten, Juden und Arbeiter haben ein gemeinsames Interesse), ist Sartre für diesen ersten Teil seines Essays auch Jahre danach noch einhellig belobigt worden, und er ist tatsächlich noch ziemlich schlagend.

Komplizierter wird es da schon im zweiten Teil, in dem es um die Rolle der Demokraten einerseits und um die Konstruktion „authentischer/unauthentischer Jude“ andererseits geht.

Dem Demokraten – nicht zu verwechseln mit dem Philosemiten, zu denen er sich später selber verlegen zählte – wirft Sartre vor, den Juden mit seinem Universalismus einfach „verschlucken“ zu wollen, letztlich in gewisser Weise auszulöschen, weil ihm alles Jüdische fremd werde angesichts der großen Menschheitssache. „Zwischen seinem Gegner und seinem Verteidiger steht der Jude ziemlich schlecht da: ihm scheint nur die Wahl zu bleiben, ob er roh oder gekocht verspeist werden möchte ... Jener will ihn als Menschen vernichten, um nur den Juden, den Paria, den Unberührbaren in ihm bestehen zu lassen; dieser will ihn als Juden vernichten, um nur den Menschen zu bewahren, das abstrakte und allgemeine Subjekt der Menschen- und Bürgerrechte. Noch beim liberalsten Demokraten kann man eine Spur von Antisemitismus entdecken: er steht dem Juden feindselig gegenüber, sobald es dem Juden einfällt, sich als Jude zu denken.“

Wen wundert's: Während Morrison die Weißen dem Partikularen zuordnet, ist für Sartre der Universalismus das Herrschaftsinstrument der Aufgeklärten. Darin macht sich womöglich die profane Tatsache bemerkbar, daß die Juden, die Sartre kannte, alle Berufe ausübten, die „rufabhängig“ waren, also Ärzte, Professoren, Hutmacher. Während ihre Bürgerrechte so lange bestanden wie die Republik, gab es bekanntermaßen

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für Morrisons Verwandte erst in den 60er Jahren das Wahlrecht.

Auf dieser Grundlage verwundert es, daß Morrison und Sartre dann in ihren Ratschlägen nicht wie Harry und Tonto in unterschiedliche Richtungen auseinanderstieben. Sartre empfiehlt dem Juden, der „authentisch“ sein will, sich den Schuh der verdammten Kreatur anzuziehen, auf seinen rationalistischen Optimismus zu verzichten; er soll nicht versuchen, unauthentisch „ein Mensch zu werden wie andere auch“, sondern soll „das Martyrium annehmen“, stolzer Paria sein. Oha!

Das ist starker Tobak, aber man lasse Gnade walten. Gerade diese Passagen waren damals Balsam für Leute, die nicht wußten wohin mit sich, die wie Gespenster durchs befreite Paris liefen, und später hat Sartre diese Ansichten auch revidiert. Er hat in Gesprächen mit seiner jüdischen Adoptivtochter Arlette zugegeben, damals das Jüdischsein tatsächlich auf den Film im Kopf des Nichtjuden reduziert zu haben und weder von Religion noch Ethnizität, Zionismus oder sonstwelchen Gravitationszentren der Diaspora irgendeine tiefere Kenntnis besessen zu haben.

Morrison praktiziert, sehr viel leiser oder eben jazziger, erratischer, etwas Ähnliches. Der den schwarzen zugeschriebene Wahnsinn, das Vorsprachliche, der Panthersex sind in ihren Büchern ebenso präsent wie die Spuren der Zerstörung durch Drogen oder das Glück, das der gemeinsame Harlem-Singsang bot. Noch in den Worten der souveränsten Brooklyner Nachbarin hört man das Sklavenglöckchen klingeln.

Toni Morrison: „Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Essays.“ Aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch und Barbara von Berchtolsheim. Rowohlt Verlag, 130 Seiten, geb., 28 DM

Jean-Paul Sartre: „Überlegungen zur Judenfrage“. Aus dem Französischen neu übersetzt von Vincent von Wroblewski. Rowohlt Verlag, 280 Seiten, geb., 16,90 DM

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