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Gewerkschaftsreform: Weniger Mann wäre mehr

Zum DGB-Kongreß in Berlin eine Analyse der falschen gewerkschaftlichen Leitbilder im sich wandelnden wahren Leben  ■ Von Mechtild Jansen

Die Arbeitslosigkeit, heißt es allenthalben, ist der größte Krisenherd der Gesellschaft, in der gleichzeitig allerorten Arbeit nach Verrichtung schreit. Doch woher soll Veränderung kommen? Die Geschlagenen selbst sind geschwächt. Politik und Wirtschaft versagen offenkundig. Die Gewerkschaften, eigentlich erste Adresse, vermochten bislang nicht, ihren Ruf „Arbeit für alle“ in einen neuen Kurs umzusetzen. Am 1. Mai blieben die großen Plätze sinnbildlich leer. Dabei werden aus der Gesellschaft alternative Konzepte angeboten, die eigentlich reißenden Absatz finden müßten:

– deutliche Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung,

– Aufwertung unbezahlter Arbeiten,

– Schaffung neuer Arbeitsplätze im Sozial- und Umweltbereich,

– Ausweitung selbständiger Arbeit,

– Lohnausgleich in den unteren Gruppen und Lohnsubventionen zur Wirtschaftsbelebung,

– lebenslang flexible Arbeitszeiten mit Bildungs-, Sabbat- oder Familienphasen,

– neue Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern,

– Anpassung der Sozial- und Rentenversicherungssysteme,

– Anreize zum fließenden Übergang in den bezahlten Arbeitsmarkt,

– Mindesteinkommen im Falle zeitweiser Erwerbsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit u.a.m.

Die Gründe für die anscheinende Ignoranz liegen tief. Die Gewerkschaften machen mit ihrer sozialen und politischen Basis geradezu das Zentrum der Lebens- und Bewußtseinslage der absterbenden alten Industriegesellschaft aus. Sie sind von einer einstmals progressiven zur konservativen Kraft geworden.

Die Annahme von Visionen, die zur Handlung anstifteten, scheitert schon am immer noch verwurzelten Leitbild des kollektiv gleichförmig geregelten Lohnarbeitsverhältnisses des Mannes, der der Familie vorsteht und sie zu ernähren hat. Er übt den Beruf strikt getrennt und tabuisiert vom privaten Leben aus. Heute wäre ziemlich genau das Gegenteil nötig: flüssig gewordene, lebenslange, individuell gesteuerte, selbstgewählte nützliche und sinnvolle Arbeit verschiedenster Art. Bezahlt und unbezahlt, verrichtet im Prinzp von jedem weiblichen und männlichen Individuum und integriert ins ganze Leben.

Die Freude an der Arbeit im eigenen Lebensumfeld und an der Beschäftigung mit dem Menschen wären zu entdecken. Das Leben und die Natur müßten nicht verlorengegeben werden. Keine Zeit zu haben wäre dann nicht mehr Ausdruck von Bedeutung und Stärke. Zeit zu haben würde heißen, weniger Geld zu brauchen.

Freie Zeit, Muße, Kreativität, Selbsttätigkeit und Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer sind das Kapital der Zukunft, das Maß einer neuen Gesellschaft und des guten Lebens. Das aber setzt die Unabhängigkeit und Mündigkeit der Menschen voraus. Diese Vorstellung scheint Gewerkschaften Angst und Schrecken einzujagen, weil sie allem Kontroll- und Regulationsdenken der Erwerbsgesellschaft zuwiderläuft.

Zum Markt und der Logik des einzelwirtschaftlichen Profits sieht heute niemand mehr eine Alternative. Damit endet die Weisheit und entblättert sich der Kapitalismus allmählich wieder bis zur Ursprungsgestalt. Politische Gestaltung und Alternativen werden nicht mehr gedacht. Die Einfallslosigkeit hat einen Grund darin, daß die Gewerkschaften das Scheitern des „Real“-Sozialismus weder hinsichtlich der Folgen noch des Zusammenhangs zur eigenen Politik reflektieren. Das verstärkt bei vielen noch die Blickverengung allein auf das eingespielte Verhältnis von Industriearbeit und Kapital, bei dem der soziale Wandel der Industriegesellschaft schon lange nicht mehr wahrgenommen wird. Die Arbeiterbewegung ist im übrigen damit groß geworden, daß sie via Lohn und staatlichem Bildungs- und Sozialsystem die „Reproduktionskosten“ für den „Produktionsfaktor“ Arbeit verlangte. Nur hat auch sie dabei falsch gerechnet und die kostenlose Frauenarbeit, d.h. die Ausbeutung der Frauen, ebenso vergessen wie die Ausbeutung der Natur oder des Südens.

Gebären, Aufziehen und Pflege des Menschen müssen heute weltweit in die Kosten von Produktion einberechnet werden, wie die ökologischen Kosten auch. Jetzt stehen Gewerkschaften vor dem Problem, daß kaum jemand auf die Errungenschaften von Kapitalismus und Demokratie verzichten will und es dennoch nicht weitergehen kann wie bisher.

Die Mystifizierung der Erwerbsarbeit und der männlichen Identität in ihr sind vielleicht das größte Hindernis von Veränderung. Sie sitzen tief. Erwerbsarbeit, Berufstätigkeit ist Wichtigkeit per se. Aus ihr leiten sich sozialer Status und Macht ab. Und die Berufs- und Ernährerrolle ist die männliche Identität schlechthin. Es gibt keine andere, sie gilt uneingeschränkt und lebenslang. Gerade die Internalisierung ihrer Zwänge gilt als heroische Stärke des Mannes, als Freiheit schlechthin, was allenfalls Freiheit des Geldes und der Beherrschung der Frau ist. Außerhalb dieser Zwänge ist der Mann nicht nur hilflos, dort ist er kein Mann mehr. Dort hört seine Unterscheidung als Gegenteil von der Frau auf, wird er selbst zur minderwertigen Frau. Alles vermeintlich „Weibliche“ – das Private, Schwache, Kranke, Abhängige, Nicht-Berechenbare – ist der Störfall des Mannes. Daher die Verachtung für Frauenarbeit und Weibersachen. Die panische Abwehr hat ihre Ursache in der Angst vor dem Absturz aus allem männlichen Ich und aller Weltbeherrschung sowie in der Verleugnung ihrer Voraussetzungen. Tatsächlich ist der Mann von „weiblicher“ Arbeit abhängig, weil auf ihrer Grundlage seine Identität erst werden kann. Das Lügengebäude ist heute nicht nur durch die Frauenbewegung, sondern durch die Umwälzung der männlichen Berufsdomäne und ihrer Unterseite infragegestellt. Das Problem wird aber immer noch als ein „Frauenproblem“ verhandelt. So bleibt wenigstens die männliche Schutzrolle erhalten. Der Mann mußte lernen, schwer genug, die Frau in seiner Sphäre – auf meist minderwertigem Niveau – zu tolerieren. Aber sein Übergang in ihre Domäne wäre der endgültige Abstieg. Doch der Mann wird sich zukünftig selbst versorgen und um seinen Nachwuchs kümmern müssen. Die alten Mythen hindern ihn nur, die Chancen von Befreiung zu sehen, die im Teilen von Verantwortung, Macht und Lebenschancen und im neuen Freiraum für die eigene Person liegen.

Vom Instrument des kollektiven Dirigismus von oben und der Stellvertretung für eine gleichförmige Masse müßten Gewerkschaften zum Instrument der Selbstorganisation einer großen Zahl von Individuen werden, die sich Wege und Mittel zur gerechten Selbstregulation schaffen. Der und die Einzelne befähigt sich dann mit ihnen zur individuellen Interessenvertretung, die kollektiven Zusammenschluß immer voraussetzt. Abhängigkeit und Bevormundung werden überflüssig, Selbstbestimmung der Einzelnen und der Gewerkschaft gehen dann zusammen.

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