: Haiti im Herzen, Fassbinder im Kopf
■ „Das ist unsere Geschichte, und wir müssen sie gemeinsam lösen“ — Raoul Peck über Mitläufertum, Widerstand und die Erinnerung an eine Diktatur
Raoul Peck ist 1953 in Port-au- Prince in Haiti geboren. 1957 übernahm der Diktator François Duvalier die Macht, ihm folgte sein Sohn Jean-Claude („Papa Doc“ und „Baby Doc“). Nachdem „Baby Doc“ Ende der 80er Jahre aus dem Land vertrieben worden war und der demokratisch gewählte Pater Jean-Bertrand Aristide an der Spitze des Staates stand, schrieb Peck in Frankreich das Drehbuch zu „L'homme sur les quais“. Doch als in Haiti Ende 1991 Drehbeginn sein sollte, hatte das Militär erneut die Macht übernommen. Der Film wurde dann in der Dominikanischen Republik gedreht.
taz: Sie haben Haiti 1960 verlassen und leben heute in Frankreich. Jetzt haben Sie einen Film über das Haiti von 1960 gedreht, über das Leben unter der Militärdiktatur.
Raoul Peck: Ich hatte einfach Lust, Bilanz zu ziehen. Was ist geblieben, wie werden wir aus dieser langen, langen Zeit rauskommen, wie kann man irgendwie eine Spur dieser Zeit hinterlassen. Ich habe dann angefangen, über eine Geschichte nachzudenken, die in einem kleinen Dorf in Haiti stattfinden könnte, wie diese Leute eigentlich tagtäglich die Diktatur erlebt haben. Die Figuren sind teilweise Leute, die ich gekannt habe.
Aber es ist auch Ihre Geschichte, die Sie erzählen?
Ja sicherlich. Sarah ist in dem Film acht Jahre alt, und ich habe Haiti verlassen, als ich acht Jahre war. Und viele der Bilder sind natürlich Bilder meiner eigenen Erinnerung. Und es gibt sogar Bilder, die ich erst danach als meine erkannt habe. Zum Beispiel, wenn Sarahs Vater seiner Tochter das Schießen beibringt, da ist mir danach bewußt geworden, das Bild habe ich schon mal irgendwo gesehen, und das war, als mein Vater meiner Mutter seine Pistole erklärt hat. Das war am Anfang der Diktatur, und die Leute von Duvalier haben angefangen, in allen öffentlichen Büros die Leute rauszuschmeißen, die gegen Duvalier waren, und meine Mutter wußte damals, daß sie Widerstand leisten würde, daß sie nicht rausgehen würde, und deshalb wollte sie eine Pistole haben. Das sind alles meine Bilder.
Was hatte Ihr Vater für eine Position?
Mein Vater war kein Politiker. Er war Landwirtschaftsingenieur und hatte vor der Militärdiktatur einen Job im Landwirtschaftsministerium. Als Duvalier kam, ist er in die Provinz gegangen und hat auf eigenen Plantagen Kaffee angebaut. Er mußte aber, um den Kaffee zu verkaufen, immer wieder in die Hauptstadt kommen, und da hat man gesagt, er versuche die Exporteure gegen die Regierung zu mobilisieren. Zweimal ist er verhaftet worden. Zum Glück immer nur für kurze Zeit. 1960 ist dann meine ganze Familie nach Afrika gegangen, weil mein Vater dort für die UNO arbeiten konnte.
Einige der Menschen, die in Ihrem Film das Land nicht verlassen können, leisten letztendlich einen sehr heroisch geschilderten Widerstand, der sinnlos wirkt, weil sie ihr Leben opfern, anstatt scheinbar geringfügigen Forderungen nachzukommen.
Es ist immer ein genau ausgeklügeltes Hin und Her. Sie wissen, wann sie angreifen können und wann sie zurückstecken müssen. Nur irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man sagt: Jetzt ist Schluß! Ich beuge mich nicht mehr!
Warum erzählen Sie aus der Sicht des Kindes?
Erst mal gibt es natürlich den authentischen Fall, an dem Film ist ja nichts erfunden. Aber es paßte am Ende auch alles zusammen. Der Blick eines Mädchens macht, daß es ein unverfälschtes Bild ist, zwar nicht unbedingt reell und objektiv, im Gegenteil, sehr subjektiv sogar. Aber unverfälscht, ohne Diplomatie, ohne irgendwas zu beschönigen oder zu dramatisieren. Sie hat natürlich einen geraden Blick. Sie will als Kind überleben, ihre Kindheit retten. Aus weiblicher Sicht ist das auch viel näher an Poesie und an Intimität.
Am Ende wird Sarahs Freundin vergewaltigt. Da dachte ich, ist das nicht zuviel, muß das nun wirklich auch noch sein?
Was ist zuviel? Also ich denke, ich habe im ganzen Film oft genug nur gespielt mit der Bedrohung. Ich habe versucht eine Geschichte zu erzählen, die hart ist und auch so nah wie möglich an der Härte der Realität, ohne aber dokumentarisch zu werden. Ich wollte einen Spielfilm machen, den man sich auch gerne ansieht. Aber ich kann auch nicht bis zum Ende mit den Gefühlen der Zuschauer spielen und sagen, ja es ist hart, aber ich zeige nicht alles. Irgendwann muß man bis zum Ende, bis zur Konsequenz gehen. Die Vergewaltigung ist die Realität, sie allein wegzulassen wäre Hochstapelei gewesen. Aber der Film ist ja damit nicht zu Ende.
Was ist für Sie das Wichtigste an Ihrem Film?
Zu zeigen, wie man mit so einer Vergangenheit, die sehr schwer zu tragen ist, umgeht. Viele Leute verdrängen das, viele erinnern sich nur an Anekdoten, aber sehr wenige sagen, Mensch, das habe ich erlebt, und das hat mein Leben geändert, ich war gedemütigt, oder ich schäme mich, weil ich damals nicht gekämpft habe. Diese ganzen Momente, wo man ganz allein ist. Für mich war wichtig zu sagen: Nein, man soll das nicht vergessen, das ist Teil meiner Vergangenheit, und ich will auch weiterleben. Daran, daß es so passiert ist, bin ich nicht als Individuum nur schuld. Das ist ebenso meine Familie, Nachbarn, die Gesellschaft. Das ist unsere Geschichte, und wir müssen das alles gemeinsam lösen.
Ursprünglich war der Film als Rückblick auf die Militärdiktatur gedacht. Dann hat die Realität die Fiktion überholt.
Keiner hätte gedacht, daß die Militärs so zynisch, so unverantwortlich sein würden, nochmal einen Putsch zu machen. Das war damals eine Zeit der Hoffnung und des Optimismus, viele Leute, die im Exil waren, sind nach Haiti zurückgekehrt und haben angefangen, sich ein neues Leben aufzubauen. Und ich dachte damals, endlich kann man offen und ehrlich über Geschichte reden und das auch als Film machen. Inhaltlich, im „Bauch“ des Films, hat die politische Rückwende nicht viel geändert, im Gegenteil — das hatte nun plötzlich eine neue Aktualität, statt nur ein historischer Film zu sein. Ich mußte sogar aufpassen, daß ich nicht ein Pamphlet oder einen militanten Film machte, sondern bei einer gewissen Universalität bleibe.
Um beim Fall Haiti zu bleiben: Dürfen Sie derzeit ins Land einreisen?
Es gibt kein offizielles Verbot, keine offizielle Zensur, alles ist so unorganisiert, und die Repression ist so blind, daß jeder und keiner gefährdet ist. Aber ich will nicht mehr, daß meine Rückkehr nach Haiti von Militärs bestimmt wird. Ich will nach Haiti, wann ich will, und es gibt immer Wege, dahinzukommen. Es wäre für mich zu einfach, solche Filme zu machen und dann draußen zu bleiben. Ich bin auch nicht so gefährdet wie andere, wenn mir etwas passieren würde, würde das viel Aufmerksamkeit erregen. Meine Filme dürfen in Haiti allerdings nicht gezeigt werden.
Empfinden Sie Ihr Leben in Frankreich und Deutschland noch immer als Exil?
Ich gehöre zu einer anderen Generation, die kosmopolitischer geworden ist. Das Wort Exil hat immer etwas Nostalgisches. Das klingt immer wie ein Verlust. Aber mein Leben in anderen Ländern war immer ein Gewinn für mich. Das macht meinen Reichtum aus, und das gibt mir auch eine andere Perspektive, weil ich dann immer relativieren kann.
Ich war auch in meiner Zeit in Deutschland politisch aktiv, war mittendrin, aber gleichzeitig hatte ich auch den Blick von außen, der mir ermöglicht hat, andere Dimensionen da reinzubringen. Haiti war permanent bei mir, das ist das, was ich immer in meinem Herz und im Kopf trage, und der Kontakt war immer da. Andererseits bin ich kein haitianischer Filmemacher, wie man mir manchmal sagt und wie man das von mir erwartet. Ich bin mehr beeinflußt von einem Fassbinder als von einem haitianischen Autor. Der Erfolg von „Der Mann auf dem Quai“ gibt mir jetzt die Freiheit, anderes zu machen als das, worauf man mich festlegen will. Irgendwann möchte ich „Stiller“ von Max Frisch verfilmen. Interview: Volker Weidermann
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