: „Blutrote Spuren“ im Wahlbezirk 55
Die Boulevardpresse erschauert: In Berlin-Treptow wählten in einem Stimmbezirk 84 Prozent die PDS, aber kaum einer will's gewesen sein / Frust in der einstigen Stasi-Siedlung, wüste Drohungen der CDU ■ Von Vera Gaserow
Die Straßenschilder tragen lauschige Namen: „Eisblumensteig“, „Bärenlauchstraße“, „Silbergrasweg“. Man wohnt hier am Stadtrand in ruhiger Lage – nicht gerade feudal, eher schlicht und solide. Aber grün ist es zwischen den vierstöckigen Reihenhäusern und jede Menge Luft in den Innenhöfen gibt es auch. Amseln trällern, Vorgartenrosen stehen in voller Blüte, Blumenkästen und Vogelhäuschen zeugen von heimeliger Pflege, und die Wäsche hängt blitzsauber in Reih und Glied. Doch hier im Ostberliner Bezirk Treptow ist am Sonntag Unheimliches passiert: die Springerzeitungen sehen eine „blutrote“ Spur durch die Straßen ziehen, und die CDU steht unter Schock: Sah man im Osten der Hauptstadt schon einen „festgefügten Block von Kommunisten“ zur Europawahl schreiten, müßte es hier am Wahlsonntag eine ganze Kompanie gewesen sein. Schlichte Wahrheit der Statistiker: Der Stimmbezirk 55 in Berlin-Treptow hat zu 84 Prozent PDS gewählt. Ein „Ausreißer“ in der Wahlarithmetik, ein Ergebnis, das in der gesamten Republik unübertroffen ist. Nur 15 Prozent fehlen zum alten Plansoll der DDR-Vergangenheit. Fünf Jahre nach der Wende hat ein Stadtviertel den Salto rückwärts geprobt: Von 868 Wahlberechtigten des Stimmbezirks gaben 486 ihren Wahlzettel ab. 408 von ihnen macht das Kreuz bei den Erben der SED.
„Die spinnen doch irgendwie“, meint Karin Heimann, „die von der PDS tun doch auch nichts für uns. Aber ich sag's Ihnen, das waren alles nur die alten Genossen.“ An „alten Genossen“ herrscht im Wahlbezirk 55 kein Mangel. Die viergeschossigen Nachkriegsbauten wurden Anfang der 60er Jahre fast ausschließlich mit Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit belegt. Andere Mieter kamen vom benachbarten Wachregiment Feliks Dzierzynski, der Elitegarde des DDR-Innenministeriums. In den letzten Jahren zogen zwar immer mehr junge Familien nach, die keinen Kontakt zu den „Organen“ hatten, doch die 59jährige Frau Heimann erinnert sich noch sehr gut an die Zeiten, „wo wir die einzige Familie im ganzen Aufgang waren, die nicht bei der Stasi war“. „Die haben uns bespitzelt, ich hab's in meinen Akten gelesen. Wirklich primitive Leute müssen das gewesen sein. Naja, heute grüßen sie ja wenigstens. Das war früher anders.“
Wenn die SPD nicht bald „in die Puschen kommt“, wettert die pensionierte Kaderleiterin Heimann, „dann gibt es hier auch bei den Bundestagswahlen ein Fest für die PDS. Was soll man denn auch sonst wählen. Den Kohl, den kann man vergessen, und der Scharping, der ruiniert doch die SPD“, sagt Frau Heimann „ihre ganz persönliche Meinung“. Aber die hört ja niemand, denn über so etwas spricht man nicht im Stimmbezirk 55. Man spricht überhaupt nicht viel miteinander, schon gar nicht über Politik.
Eine Siedlung hat fast einstimmig PDS gewählt, aber kaum einer will's gewesen sein. Nur erklären können sich das alle: „Natürlich sind das hier alles alte Genossen, die wählen eben das, was sie kennen“, meint Taxifahrer Bernrath, „aber deswegen kann die Nachbarschaft doch gut sein. Ich hab mich immer wohl gefühlt hier draußen. Und das wird auch so bleiben.“ Er selber hat die Wahl „verschwitzt“. Wo er sein Kreuz gemacht hätte, möchte er nicht sagen, bei der PDS „wohl eher nicht.“
Auch Herr Jochimsen besteht auf seinem Wahlgeheimnis. Gern wohnt er hier in der Siedlung. Ruhig sei es, „und die Verhältnisse sehr freundschaftlich“. Die 84 Prozent für die PDS? „Ja, das ist die besondere Lage dieses Objekts. Hier wohnen nun mal viele Stasi- Leute. Und wie sie mit denen umgesprungen sind nach der Wende, da ist ein ganz schöner Frust drin, das darf man nicht vergessen.“
Daß die Arbeitslosigkeit hier überdurchschnittlich hoch wäre, die Mieten besonders dramatisch gestiegen wären, nein, das will niemand behaupten. Und auch die dicht aneinandergereihten neuen Westautos sind nicht gerade Kronzeugen sozialer Not. Dennoch leben hier die Verlierer der Einheit – diejenigen, die etwas zu verlieren hatten: ein Bündel Privilegien, das aus westlicher Sicht bescheiden- alltäglich anmutet, und Zipfelchen von der untergehenden Macht. Menschen in einer „repressiven Lebenssituation“ nennt Michael Schneider, Bezirkschef der Treptower PDS, die Wählerschaft seiner Rekordhochburg, „die können sich dann eben mit Kandidaten wie Hans Modrow und Heinrich Fink identifizieren, die ebenfalls in repressiven Lebenssituationen sind.“ Daß seine Klientel im Stimmbezirk 55 überwiegend aus alter Stasi- Gefolgschaft besteht, damit hat der PDS-Mann keine Probleme: „Mir steht es nicht zu, darüber zu urteilen, was die Leute vor vier Jahren gemacht haben. SPD und CDU haben schließlich auch ihre Hochburgen.“ So einfach kann Geschichtsbewältigung sein.
„Vergnatzt sind die Leute hier!“ meint Hansjürgen Kahl. Auf die Frage nach dem Warum hat er nur ein bitteres Grinsen. Nein, auch er hat selbstverständlich nicht PDS gewählt, aber um die 84 Prozent zu erklären, reicht ihm ein Blick auf die eigene Situation: „Jahrelang bin ich Diplom-Lehrer gewesen. Und wissen Sie, wohin ich jetzt fahre? Zur Spätschicht als Wachschützer, für neun Mark die Stunde! Verstehen Sie nun? Es sind ja keine dummen Leute, die hier wohnen, im Gegenteil!“
„Säcke“, „rote Säcke“ – Volker Hartmann, seines Zeichens Busfahrer bei den Berliner Verkehrsbetrieben, steigert den Begriff „rote Socke“ nach Stammtischart. „Alles nur hohe Tiere, hier wohnt nur rotes Zeug.“ Und alle haben „längst wieder 'nen hohen Posten gefunden. Die sitzen alle wieder mit dem Arsch an der Wand.“ Wenn er, Volker Hartmann, das Sagen hätte, dann hätte er „als Bürger dieser Wohngegend die PDS längst verboten! Früher konnte man ja Parteien verbieten, wie man wollte, heute läßt man ja jeden Dreck zu. Die Leute hier dürften doch gar nicht wählen gehen.“ Ein Volker Hartmann selbstverständlich ausgenommen. Aber der ist ja auch nicht wählen gegangen, weil „es hat ja alles eh keinen Zweck.“
Daniela ist Schülerin und durfte mit ihren fünfzehn Jahren noch gar nicht wählen. Aber wenn man sie gelassen hätte, sie hätte für die PDS gestimmt, „weil das die einzige Partei ist, die irgendwie noch was von früher bringt. Die nicht sagt, früher war alles schlecht. Ich hab wirklich schöne Erinnerungen an damals.“
„Es will doch niemand die alten Zeiten wirklich zurück, wir sind doch Realisten und haben eingesehen, daß das auch so nicht mehr weitergegangen wär'“, meint Traudl Gerlach, 65 Jahre alt und kurz nach der Wende „gerade noch rechtzeitig auf Rente gegangen“. Auch Traudl Gerlach hat „die“ nicht gewählt, obwohl die PDS „die Partei ist, der ich mich am meisten verbunden fühle. Schließlich kann man doch nicht die wählen, die uns ständig kränken.“ Wenn's nur das Finanzielle wäre, Traudl Gerlach hätte sich mit dem neuen Deutschland längst versöhnt, „aber daß der Westen uns ständig beleidigt, daß niemand begreifen will, daß das damals auch aus Überzeugung hier aufgebaut wurde, das kränkt. Man möchte doch auch Achtung haben für all die Jahre, die man hart gearbeitet hat.“ Schon bei dem Wort „Protestwahl“ könnte Rentnerin Gerlach wütend werden: „Die Leute sind doch nicht blöd hier. Die wählen PDS aus Überzeugung, weil das die einzige Partei ist, die sie wenigstens ernst nimmt. Deswegen will man doch längst nicht die Mauer wieder haben.“ Wenn Traudl Gerlach überlegt, was sich ändern müßte, denkt sie an ein weißes Stück Ofenrohr zurück: „Das gab's bei uns im Osten nicht und ich wollt' so gern eins haben für die Küche.“ Gleich nach der Wende ist sie deshalb in den Westen und hat ihr weißes Ofenrohr gekauft, „da hat der Verkäufer an der Kasse mir ,gutes Gelingen‘ gewünscht. Sehen Sie, das würde ich heute gern mal wieder hören von denen drüben.“
Nach dem letzten Wahlsonntag wird Traudl Gerlach auf solche Aufmunterungen eher warten müssen. Der PDS-Erfolg hat die Töne um ganze Stimmlagen schärfer werden lassen. In Berlin hat die SED-Nachfolgepartei im Ostteil der Stadt spektakuläre 40 Prozent errungen und ist damit stimmstärkste Partei geworden. Ausgerechnet hier, wo die Grenzen zwischen Ost und West am ehesten zerfließen, haben sich fast doppelt so viele einstige DDR-Bürger für die „Sachwalter des Ostens“ entschieden wie sonstwo in Neufünfland – Anzeichen einer politischen Kluft, die weit über Berlin hinaus zum Nachdenken zwingt.
In Berlin selbst jedoch ist das Nachdenken gleich nahtlos in Parteienstreit übergegangen. Nach dem Muster des beleidigten Patenonkels, der zuwenig Dank für seine Geschenke erntet, hat CDU-Fraktionschef Landowsky jetzt eine Debatte losgetreten, ob es angesichts des PDS-Erfolgs „gerechtfertigt war, nahezu alle freien Ressourcen, Investitionsmittel und Aufbaumaßnahmen bis hin zur Hundertprozentangleichung für die öffentlichen Bediensteten in den Ostteil der Stadt zu pumpen.“ Und der Koalitionspartner SPD hat alle Hände voll zu tun, diese „Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik“, mit der die CDU neue Mauern baut, wieder ins Lot der Vernunft zu rücken. Dabei stehen die Berliner Sozialdemokraten selbst mit dem Rücken an der Wand. In den Ostbezirken mußte die SPD Stimmen an die PDS abgeben, in den Westbezirken verlor sie ihr Klientel an den Wahlsieger Nummer zwei, Bündnis 90 / Die Grünen. Mit satten 34 Prozent haben die Grünen in Kreuzberg SPD und CDU deutlich abgehängt.
Würden die BerlinerInnen heute ihr Parlament wählen, das Ergebnis wäre wenig anders als bei den Europawahlen: nach einer aktuellen Meinungsumfrage wäre die CDU – trotz deutlicher Stimmenverluste – mit 35 Prozent zwar stärkste Partei. Im Osten käme sie aber nur auf magere 18 Prozent. Auch die SPD könnte gerade mal 30 Prozent für sich verbuchen. Deutliche Wahlsieger wären die PDS im Osten mit 30 Prozent und Bündnis 90 / Die Grünen, die in beiden Stadthälften gleichermaßen auf 13 Prozent kämen. Jede Menge Kraftfutter für Koalitionsspekulationen und frostiger Willkommensgruß für eine Regierungskoalition, die ihren Umzug planen muß.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen