: Winkelemente für West-Alliierte
■ 75.000 Berliner und ein paar sexy Soldaten auf dem 17. Juni
„Thank you, Merci, Dankeschön“, über Wochen mobilisierte der Berliner Senat die Zivilisten, damit sie kommen und winken. Und sie taten es. Etwa 75.000 BerlinerInnen, Wessi-Touristen, Ossi- Reservisten strömten mit Kindern, Hunden, Coca-Cola und Camcordern herbei, um noch ein letztes Mal zu sehen, wie hübsch doch die Jungs von den West-Alliierten marschieren können. Vom Charlottenburger bis zum Brandenburger Tor und wieder nach Westen zurück, das war symbolisch gemeint, schließlich geht es dorthin zurück. Die Stadt ist seit Monaten im Good-bye-Taumel, der Gnadenstoß erfolgte am Samstag.
Aber gaaaaanz langsam, die Veranstaltung hatte der Senat organisiert. Um 10 Uhr sollte das Vorprogramm anfangen. Zehntausende kamen schon Stunden zuvor. Familienväter kletterten in die Bäume des Tiergarten, hievten die Kleinen auf die höchsten Äste, dabei gab es sowenig zu sehen. Gegen halb elf landeten einige Fallschirmspringer neben der Siegessäule, ab und zu fuhren kopfstehende Polizisten auf Motorrädern vorbei und irgendwann auch einmal im offenen Wagen der Regierende Bürgermeister, drei Westgeneräle und der neue Bundeswehrchef von Berlin. Später hielten alle Abschiedsreden, alles goldene Worte für die Geschichtsbücher. Den 75.000 meist mit Winkelementen Bewaffneten ging es ohnehin einzig um die Parade. Um marsch, marsch, bumm, bumm – ein letztes Mal.
1964 ratterten die Blockade- Helden mit Panzern und schwerem Geschütz zum ersten Mal gen Brandenburger Tor, bis 1989 blieb es eine liebe Gewohnheit. Jetzt ist der Kalte Krieg vorbei, und der Abschiedsauf- und -abmarsch von 11.35 bis 12.05 Uhr blieb eine vollkommen pazifistische Angelegenheit. Kein einziges Panzerchen, keine Spur mehr von der morbiden Atmosphäre, die die früheren Paraden sogar für Linke grauslig-interessant machte. Insgesamt 2.000 nette Jungs wippten, nach nationalen Formationen sortiert, mit Musik voran die Straße des 17. Juni entlang. Besonders die amerikanischen Befreier kamen des öfteren aus dem Takt. „Sind sie nicht süß“, „ist der Zeremonienmeister nicht sexy“, sagte die Tochter zur Mutter. „Ja, mein Kind, ich kannte auch mal einen.“
Aber trotz aller Erinnerungen und trotz der in Heimarbeit gefertigten Dankeschön-Transparente, „we miss you, we love you“, richtig Stimmung kam nicht auf. Die Massen blieben Kulisse für einen hoch- symbolischen Freundschaftsakt. Und niemand schien die Russen zu vermissen, niemand erinnerte, daß die alliierte Präsenz auch was mit dem 8. Mai 1945 zu tun hatte. Es war eben ein Westberliner Zeremoniell, die Russen müssen am nächsten Samstag in Köpenick alleine marschieren. Der 18. Juni wäre ein langweiliger Tag geblieben, wenn nicht am Abend die Leningrad Cowboys, das Alexandrov Red Army Ensemble und X-tausende begeisterte Zuhörer im Lustgarten vorgeführt hätten, wie man richtig feiert. Normalos, Schwule, Berliner Witwen, alles durcheinander, jubelten, tanzten, beklatschten die anarchistischste Musikveranstaltung seit 1945. Russische Soldaten sangen in Uniform „Knocking on Heavens Door“ und a cappella das Wolgalied. Das war doch wirklich zum Weinen schön. Anita Kugler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen