„Macht euren Krieg ohne uns!“

Seit zwei Jahren verweigert ein Dorf in der nordserbischen Vojvodina kollektiv den Kriegsdienst / Die „Geistige Republik Zitzer“ hat Hunderte von Bürgern außerhalb Ex-Jugoslawiens  ■ Aus Trešnjevac Werner Paczian

Trešnjevac liegt auf einer Anhöhe. Inmitten der Vojvodina, der Tiefebene im Norden Serbiens. Lange, dunke Ackerstreifen, die unterhalb des Dorfes plötzlich abbrechen, zeichnen die Landschaft. Hinter den kleinen Häusern wurden Gemüsegärten angelegt und Viehställe errichtet. Der Gestank von Viehmist und Traktorabgasen vermischt sich mit dem Duft von Heu und frischgebackenem Brot. Bis vor zwei Jahren war Trešnjevac ein Dorf wie jedes andere. Dann rumorte es in der kleinen Gemeinde, und ein mächtiger Ausbruch folgte. Heute ragt Trešnjevac auch aus der politischen Landschaft Serbiens deutlich hervor.

Mária Lukácsi wäscht Gemüse. „Der Krieg hat die Wirtschaft ruiniert. Wer keinen eigenen Garten, kein eigenes Vieh hat, ist heute schlecht dran“, sagt die 51jährige Hausfrau. Auch die Wurst stellt sie selbst her. „Ich hätte nie geahnt, daß unser Protest so viel auslösen würde. Damals, das war eine spontane Aktion.“ „Damals“, sagen die 2.000 überwiegend ungarischstämmigen Dorfbewohner, wenn sie von den Ereignissen im Mai und Juni 1992 sprechen. Als Panzer Trešnjevac umzingelten. Als die serbische Staatsgewalt sich herausgefordert fühlte, weil die Bewohner sich weigerten, die Männer des Dorfes in den Krieg ziehen zu lassen.

Anfang Mai 1992 waren über 200 „Wehrfähige“ aus Trešnjevac zu einer „Reserveübung“ einberufen worden. Die Leute ahnten, daß die „Übung“ an der Front in Bosnien stattfinden würde. Ein paar Frauen meldeten eine Demonstration an. „Unsere Veranstaltung wurde verboten“, erzählt die 24jährige Ildiko Mináros, „aber wir sind trotzdem auf die Straße gegangen.“ Als dieser Protestzug durch die Gassen von Trešnjevac zog, erfuhren die Menschen, daß ihr Ort seit einer Stunde von Panzern umstellt war. Trotzdem weigerten sie sich, ihre Demonstration zu beenden, und zogen zur zentralen Dorfkneipe, dem „Zitzer- Club“. Die Pizzeria mit Billardtisch wurde zum Stützpunkt der Kriegsdienstverweigerer.

Die Männer des Dorfes versuchten noch am gleichen Tag, die Positionen ihrer Belagerer festzustellen. Zweiundneunzig Panzer zählten sie. Bis auf einen hatten alle ihre Kanonen auf das Dorf gerichtet. „Als wir zurückkamen und berichtet haben, herrschte minutenlang Totenstille“, erzählt der Maurer Lázlo Kokai. „Die Frauen haben ihre Kinder umklammert und gebetet. Wenn dir plötzlich die Hölle droht, ist der Himmel sehr nah. Trotzdem haben wir gedacht, es ist besser, hier zu sterben als in Sarajevo.“

Mária kramt ein Bild hervor, auf dem ihr Haus zu sehen ist. „In die Dörfern, in denen Menschen ungarischer Abstammung leben, kamen Studenten aus Belgrad und haben die Häuser fotografiert.“ Das war im Januar 1991, kurz vor Kriegsbeginn. Zuerst dachten die Bewohner von Trešnjevac, die Studenten wollten sich ein bißchen Geld verdienen.

Aber dann kam das Gerücht auf, unter Serben würden Kataloge mit den Häusern der Vojvodina- Ungarn herumgereicht. Zwar kennt Mária niemanden, der einen derartigen Katalog je gesehen hätte. Doch die Gerüchte, die auch von ungarischen Nationalisten stammen könnten, die die Region von Serbien abspalten wollen, hielten sich. Gerüchte, die zeigen, wie angespannt die Situation auch im angeblich so friedlichen Norden der „Bundesrepublik Jugoslawien“ ist.

Vor zwei Jahren hofften die Menschen von Trešnjevac noch, daß „die da schon nicht schießen werden“. In der Nacht vom 6. zum 7. Mai harrten Hunderte trotz Panzern und Kälte im „Zitzer-Club“ aus. Am nächsten Tag waren es schon weit über 1.000 Protestierende. „Jeder, der gegen den Krieg war, konnte bleiben“, sagt Lajos Balla, der ehemalige Dorflehrer und Kopf des Widerstands. „Wir haben nicht gefragt, ob jemand von Ungarn, Serben oder Kroaten abstammt.“

Der 76jährige Miklos Cerna ist Bauer und lebt seit 1928 in Trešnjevac. Im Mai 1992 sprach er zum ersten Mal in seinem Leben vor mehr als zehn Leuten. „Damit es Frieden gibt“, sagt er heute. „Ich war ganz vorne im Zweiten Weltkrieg und weiß, was ein Schlachtfeld ist. Deshalb mußte ich unseren jungen Verweigerern gratulieren.“

Der 33jährige Vilmos Almási und seine Frau Tünde (24) gehörten im Mai 1992 zu den Unbeugsamen. „Wir haben uns vor den Panzern nicht gefürchtet. Warum sollten die schießen? In unserem Dorf gibt es keine Waffen außer ein paar alten Jagdgewehren.“ Vilmos ist einer der Reservisten, die die Einberufung ablehnen. Angst hatte Tünde erst, als ihr Mann einige Monate später zur Militärbehörde im nahen Subotica zitiert wurde. „Ich wußte nicht: Verliere ich ihn, wenn er in den Krieg muß? Oder verliere ich ihn, wenn er sich weigert zu kämpfen?“ sagt sie.

Vilmos blieb bei seiner Entscheidung. Die Militärs hielten ihn jedoch nicht fest und schickten ihn nach Hause zurück – vorläufig. Und während der Anhörung begingen sie einen entscheidenden Fehler: Im Protokoll der Armee steht, Vilmos habe sich geweigert, seiner mobilzacija nachzukommen – der Einberufung zum Kriegseinsatz. Von einer „Reserveübung“ war nirgends die Rede.

Nach dem Essen holt Mária eine Sammlung von Banknoten hervor. „Dafür gab es bis vor kurzem nicht einmal einen Kaugummi“, sagt sie und hält einen Schein hoch, auf den eine Fünf und viele Nullen gedruckt sind. „Eins, zwei, drei“, zählt Mária, „zehn, elf.“ Mit jedem Kriegstag sei die Inflation gestiegen, Ende vergangenen Jahres hätten „die da oben“ gar einen einen Meter langen Geldschein herausgegeben, fügt Márias Mann Jozcef hinzu. „Klopapier haben wir das genannt. Das kommt von dem Scheißkrieg.“ Inzwischen zahlen die Menschen mit dem neuen „Super-Dinar“. Seitdem laufen die Wetten, wie lange die neue Währung stabil bleiben wird.

Mária schüttet dünnen Kaffee in kleine Tassen. Was treibt eine 52jährige Hausfrau dazu, seit zwei Jahren konsequent gegen ein Regime aus Terror-Profis zu opponieren? „Mein Neffe wurde bei Sarajevo getötet“, erzählt sie. „Dabei wollte er doch nur in Frieden leben, genauso wie wir.“ In der „Bundesrepublik Jugoslawien“ ist dieser Wunsch seit einigen Jahren keine Floskel mehr, sondern gleichbedeutend mit Opposition zur amtlichen Politik.

„Damals haben wir uns zum ersten Mal im Leben gegen unsere Regierung in Belgrad gewehrt, weil wir Angst um unsere Männer hatten“, sagt Mária. „Selbst meine engsten Freunde habe ich durch unseren Protest völlig neu kennengelernt.“ Die Bewohner von Trešnjevac riskierten ihren größten Besitz – das eigene Leben. „Es ist nicht so, daß wir nicht zurück könnten“, betont Mária. „Wir wollen es nicht!“

Zumal auch aus den umliegenden Dörfer Unterstützung kam. Als erster radelte ein Bauer nach Trešnjevac und spendete ein halbes Schaf. Dann wurde in den Nachbargemeinden Geld gesammelt, um den Verdienstausfall der Protestierenden auszugleichen. Aber auch Belgrad reagierte. Am dritten Tag des Widerstandes wurde der „Fall Trešnjevac“ im Parlament behandelt, kurz danach zogen die Panzer ab. Weil im Dorf keiner dem plötzlichen Frieden traute, wurde das Verweigerungscamp im „Zitzer-Club“ fortgesetzt, insgesamt 62 Tage lang.

Márias Blick wird ängstlich, als sie über die etwa zwanzig serbischen Familien im Dorf spricht. „Von manchen haben wir gehört, wir sollten nach Ungarn verschwinden und uns da versammeln.“ Und das sei noch eine der harmlosesten Anfeindungen gewesen. „Und“, so Mária weiter, „wird dürfen uns nicht einmal wehren, sonst heißt es gleich, die serbische Minderheit würde unterdrückt.“ Für die Politiker in Belgrad boten solche Behauptungen nicht nur einmal den Anlaß für bewaffnete Aktionen in anderen Dörfern.

Einschüchterungsversuche gegen die Menschen in Trešnjevac gibt es bis heute. Mal tauchten Unbekannte auf und belauerten die Häuser. Das Kennzeichen ihres Fahrzeuges war aus der selbsternannten „Serbischen Republik Krajina“, einem international nicht anerkannten „Staat“.

Und auch die Armee läßt Trešnjevac nicht los, will die Dorfbewohner zum Aufgeben zwingen. Vergeblich: Als im vergangenen Jahr die Militärpolizei anrückte, sprang ein Reservist über den Gartenzaun und verschwand. Ein anderer versteckte sich im Eisschrank. Der war dank der Kriegswirtschaft leer.

Vilmos Almási, der designierte Bürgermeister von Trešnjevac, sitzt seit Mitte Mai im Knast. Für seine Weigerung, als „Reservist“ in den Krieg zu ziehen, verurteilte ein Militärgericht den Landarbeiter zu vier Monaten Haftstrafe. Herr Almási, so die Begründung, bedeute eine Gefahr für die Allgemeinheit. Doch der Bürgermeister steht bis heute zu seinem Entschluß. „Ich hatte die Wahl, im Schatten Europas als Kriegsverbrecher zu leben oder den Mut aufzubringen, solche Verbrechen abzulehnen.“

„Macht euren Krieg ohne uns!“, so lautete vor zwei Jahren die spontane Reaktion der Dorfbewohner. Aber dann entwickelte sich aus dem Widerstand ein viel weiter reichendes Ziel. Ende Juni 1992 gründeten die Menschen von Trešnjevac die „Geistige Republik Zitzer“ (GRZ). „Es ist eine Republik ohne territoriale Ansprüche“, erklärt Lajos Balla. „Heute sind wir per Verfassung eine symbolische, transnationale Institution des bürgerlichen Ungehorsams.“

Und weil die Bürger der „Geistigen Republik“ die Staatsgründung vor allem als einen symbolischen Akt sahen, entschieden sie sich auch für ein Wappen voller Symbole. In einem buntumrandeten Quadrat bilden drei Kugeln ein Dreieck: Die Billardkugeln aus dem „Zitzer-Club“. Der schlichte Kreis in der Wappenmitte symbolisiert eine Pizza.

Die kleinste Republik der Welt wächst jeden Tag. Ihre symbolischen Bürger leben inzwischen in Japan, Frankreich, Argentinien und den USA. Allein 500 Anträge auf „Staats“-Bürgerschaft gingen nach und nach aus Deutschland ein, passend zur Republik-Hymne, dem „Bolero“ von Ravel. „Das Stück fängt langsam und mit wenigen Stimmen an und wird dann immer lauter“, sagt Lajos Balla. „Es ist wie unsere Idee.“