: Verhurt, wütend und zynisch
■ Mit Leidenschaft: der niederländische Autor und Regisseur Gerardjan Rijnders
„Ich mache mir überhaupt keine Illusionen über den Sinn von Theaterarbeit“, sagt der umstrittenste Theatermacher der Niederlande. Gerardjan Rijnders bezeichnet sich selbst als Tänzer, aber er ist vor allem bekannt als Autor, Schauspieler sowie Regisseur für Theater, Film und Fernsehen. Rijnders ist besessen vom Theater, und das begann schon damals, als er noch ein Kind war: „So wie andere Kinder Namen von Popstars auf ihre Schultaschen schrieben, schrieb ich Namen von Theaterautoren darauf.“ Es ist eine Leidenschaft, die zusammenfällt mit dem Bewußtwerden seiner Homosexualität. Heute ist Gerardjan Rijnders (44) einer der wichtigsten und produktivsten Theatermacher in den Niederlanden.
Seit 1987 ist er der künstlerische Leiter der „Toneelgroep Amsterdam“, einer der am höchsten subventionierten niederländischen Theatergruppen. Hier bringt er aufsehenerregende und umstrittene Inszenierungen heraus, denen zur Hälfte seine eigenen Texte zugrunde liegen. Rijnders hat rund zwanzig Stücke geschrieben, zuletzt das in verschiedene Sprachen übersetzte „Liefhebber“ (1991), „Cocktail“ (1992) und schließlich „Count Your Blessings“ (1993), das während der Bonner Biennale in seiner eigenen Regie gezeigt wird. Es sind Texte, die vor Zynismus, rüdem Sprachgebrauch, Sex und Gewalt nur so strotzen. Sprache erscheint als völlig unzureichend, um Menschen einander näherzubringen: Dialoge kommen nicht in Gang, Unverständnis und Machtlosigkeit haben Hochkonjunktur. Familie spielt in seiner Arbeit eine große Rolle. „Jeder kommt immer aus einer Familie“, sagt Rijnders. „Das ist eine Art Dampfkochtopf. Die Menschen sitzen darin so dicht aufeinander, daß es einfach zu spektakulären Ausbrüchen kommen muß.“
Rijnders schreibt in Reaktion auf die Außenwelt, und alles in dieser Außenwelt kann brauchbar sein: die Hundescheiße auf dem Rasen, hier und dort aufgepickte Sätze im Supermarkt oder aus dem Fernsehen, ein Penner auf der Straße. „Ich fühle überhaupt nichts“, sagt Jane in „Cocktail“, „nur den Schmerz der Erinnerung daran, wie du immer sofort danach den Schwanz waschen mußtest, na ... als ob ich ein Abflußrohr anstelle einer Möse habe.“
Manchmal muß das sein, dieser Sprachgebrauch, wenn Rijnders sich in seiner Wut nicht anders ausdrücken kann. Aber er interessiert sich mehr dafür, wie jemand etwas formuliert, als für das schreckliche Gefühl, das dahintersteckt. „Es gibt, glaub' ich, nur sechs Gefühle“, ist sein lakonischer Kommentar. Manche nennen ihn den verhurtesten Theatermacher der Niederlande. Und er stimmt dem zu. In seinen Inszenierungen, seien es nun Klassiker, eigene Texte oder Montagen, bedient er sich aller Mittel, egal woher, wenn sie nur funktionieren: von Showbiz und Soaps über Ballett bis zu Schlagzeugsessions. Seine Arbeit läßt sich nicht unter einen bestimmten Regiestil bringen. In „Liefhebber“ spuckt ein Theaterkritiker länger als eine Stunde lang Gift und Galle über „das Theater“, wo partout kein Drama mehr entstehen will, während er vor dem Drama, das sich in seinem Wohnzimmer abspielt, die Augen verschließt. Der Sohn setzt sich einen Schuß, onaniert live auf der Bühne, vögelt die Mutter, die dabei ganz beherrscht weiter ihre Pflanzen putzt, Sherry trinkt und Bauchspeck in der Pfanne brät. Der Speckgeruch steigt einem in die Nase, derweil Sperma auf das Sofa tropft. Dieser Hyperrealismus bewirkt bei den Zuschauern eine fast körperliche Reaktion.
Rijnders setzt dem Publikum eine Welt vor, in der „Normalsein“ nicht existiert, Bürgerlichkeit gnadenlos demontiert wird und Harmonie ein Begriff aus einer anderen Zeit zu sein scheint. Mit heftigen Mitteln will Rijnders seine Zuschauer treffen. Und das gelingt. Manche reagieren böse und empört, andere traurig und verwirrt. Sein persönliches Statement bietet keine fix und fertigen Lösungen. „Es ist schön, wenn die Leute einige Dilemmas mit nach Hause nehmen, ich finde es auch gut, wenn sie furchtbar weinen müssen. Die schönste Wirkung, die Theater erreichen kann, ist, wenn jemand am Tag nach der Vorstellung durch die Stadt läuft und sich dabei ertappt, daß er ganz anders schaut.“
Unter Schauspielern hat Rijnders den Ruf, inspirierend, erfinderisch und „anders“ zu sein. Er kreiert einen Rahmen, in dem der Schauspieler sich frei bewegen kann. Innerhalb des Probenprozesses bringen die Schauspieler außergewöhnlich viel ein, während Rijnders sich solange wie möglich im Hintergrund hält: „Ich bin absolut kein Regisseur, der genau sagt, wie was sein muß. Neunzig Prozent meiner Energie verbrauche ich dafür, der Idee der Schauspieler zuvorzukommen, ich würde ihnen etwas auferlegen wollen. Sie spielen besser mit dem Gefühl, sich alles selbst ausgedacht zu haben.“
Seine Montagefreude hat die Schauspieler so manches Mal an den Rand der Verzweiflung getrieben. 1987 begann er mit „Bakeliet“, gefolgt von „Titus“, „Geen Shakespeare“, „Ballet“ und nun „Count Your Blessings“: Keine Figuren, keine Geschichte oder Psychologie. Keine Dialoge. Keine Logik. „Wir haben keinen Bedarf an Rührseligkeiten“, sagte Rijnders während der Proben zu „Ballet“. Handlungen und Ereignisse, aber auch Musik, Bewegung und Text werden neben- oder hintereinander montiert, so daß das Publikum dem Geschehen orientierungslos ausgesetzt ist. Im Lauf der Vorstellung ergibt sich Struktur in diesem Chaos. Rijnders hat sich in dieser Theaterform von der Zusammenarbeit mit der amerikanischen Wooster Group beeinflussen lassen.
In diesem Montagetheater verirrt sich der Zuschauer unweigerlich auf der Suche nach einer Handlung, Charakteren oder einem kausalen Zusammenhang. Es fordert eine andere Wahrnehmung. Rijnders beschrieb in einem Interview seine Faszination durch die Arbeit des Malers Mark Rothko: Bilder, die aus lauter Farben bestehen, führten ihn zu einer fast mystischen Seherfahrung. „Ich stehe Aug' in Aug' mit etwas, was ich nicht fassen kann, was aber sehr anrührend ist. In der bildenden Kunst brauchen wir nicht mehr zu erkennen, was da gemalt ist. So etwas muß das Theater auch erreichen können.“ Karin van Herwijnen
„Count Your Blessings“ von Gerardjan Rijnders ist am 22. und 23. Juni während der Bonner Biennale 94 zu sehen.
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