: Vom Nachttisch geträumt
■ Hinweise auf neue und alte Bücher
Soviel Anfang war nicht
An diesem Buch stimmt nichts. Die im Titel gestellte Frage „Was geht uns Deutschland an?“ wird auf nicht einmal zehn der 184 Seiten des Bandes behandelt, und der Untertitel will uns eine Vorlesung als „Essay“ verkaufen. Dem Autor ist es offenbar gelungen, Vorträge, die er in Riga hielt, an einem schlafenden Suhrkamp-Lektorat vorbei direkt in die Druckerei zu schmuggeln.
Wilhelm Schmid gelingt eine der tollkühnsten Formulierungen der Thomas-Mann-Literatur: „Schweigen wir von seinem Stil mit den vielfach ineinander verschlungenen, bildungsbürgerlichen Sätzen, dafür kann er nichts; aber er kann etwas für das, was er sagt, und das ist ermüdend in seiner eintönigen Gebetsleier ...“ Bis zu der Behauptung, ausgerechnet für seinen Stil könne der Meister nichts, hat noch kein Thomas-Mann-Rezensent sich verstiegen.
Der Autor hält nicht viel vom „Nationalen“. Aber die von ihm so geschätzte „Bewegung von 68“ hat den Begriff des Nationalen keineswegs „in den Mülleimer der Geschichte“ – beim agrarischen Lenin war es noch ein Misthaufen – geworfen, wie er behauptet. Die meisten demonstrierten damals für die „nationalen Befreiungsbewegungen“. Der Vietnamkrieg wurde als ein nationaler Befreiungskrieg interpretiert. Schmid übergeht das. Er ist ein Schematiker. Er braucht die gute Studentenbewegung, wie er den Beelzebub Nationalismus braucht. Er merkt nicht, daß er mit Begriffen hantiert, statt sich die Realität anzuschauen. Die Bewegung von 68 hat viel für die Wiedereinführung eines positiven Nation-Verständnisses getan. Auch der Begriff des Volkes wurde auf den Straßen unter der Fahne „Sieg im Volkskrieg“ neu evaluiert. Man muß damit nicht einverstanden sein, aber man sollte die Hörer in Riga und die deutschen Leser nicht über die Ambivalenz der Entwicklungen betrügen. Daß die Edition Suhrkamp, die viel zur Debatte um die nationalen Befreiungsbewegungen publiziert hat, sich jetzt einer solchen Geschichtsklitterung zur Verfügung stellt, klärt den Leser allenfalls darüber auf, wie historisch auch diese jüngste Vergangenheit, die Studentenbewegung von 1968, geworden ist.
So weit weg ist sie freilich nicht, daß der Lektor dem Autor hätte glauben müssen, was er auf Seite 92 behauptet: Das Reizen des Penis mit Lippen, Zähnen und Zunge, Fellatio genannt, sei eine „Neuentdeckung dieser Zeit für den deutschen Kulturkreis“ gewesen. Soviel Anfang war nicht.
Wilhelm Schmid: „Was geht uns Deutschland an?“ Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1993, 184 Seiten, 16,80 DM
Facts & Figures
Elmar Kraushaar, gelegentlich auch Mitarbeiter der taz, hat ein kleines, extrem nützliches Rowohlt-Bändchen herausgebracht: „Schwule Listen. Namen, Daten und Geschichten“. Wer vergessen hat oder es niemals wußte, daß Homosexualität in Bosnien-Herzegowina wie in Serbien mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft wird, kann es hier nachlesen. Daß für Kuba exakt dasselbe gilt, wird die Immer-noch-Liebhaber des real existierenden socialismo tropical auch nicht eines Besseren belehren. Das generelle Verbot homosexueller Handlungen wurde in Frankreich 1791 abgeschafft, in den USA bis heute nicht. Der mann-männliche Analverkehr z.B. steht dort in 21 Staaten unter Strafe. Die westlichen Werte werden an den entlegensten Fronten verteidigt. Daß es zwei Deutschland gab, war für Homosexuelle ein Glück. Hätte die DDR nicht 1968 – gleichzeitig mit Bulgarien – das Verbot homosexueller Handlungen aufgehoben, in der Bundesrepublik hätte bei allem „mehr Demokratie wagen“ wahrscheinlich nicht schon im folgenden Jahr dieselbe Regelung gegolten. Zweieinhalb Seiten des Bandes müßten Eingang in die Schulbücher finden: die Chronologie zur Geschichte des Paragraphen 175. 1813 verzichtete Bayern auf eine besondere Gesetzgebung für Homosexuelle. Als es 1870 zum Reich kommt, wird die preußische Regelung auch dort Gesetz. Begründung: Das „Rechtsbewußtsein des Volkes“ verlange eine Bestrafung. In immer neuen Kampagnen wurde der Paragraph immer rigoroser. Zum Datum 1949 vermerkt Kraushaar lapidar: „Die neugegründete Bundesrepublik Deutschland übernimmt den Paragraph 175 in der NS-Fassung in ihr Strafgesetzbuch.“ 1994 wird er gestrichen. Für Bayern gilt nach 181 Jahren Fortschritt wieder das Recht von 1813.
Elmar Kraushaar: „Schwule Listen. Namen, Daten und Geschichten“. Rowohlt-Taschenbuch, 217 Seiten, 12,90 DM
IM Schneewittchen
Eliots Disney-Biographie ist ein Blick hinter die Kulissen des Geschäftslebens. Durchaus geeignet als „Kurzer Lehrgang“ für die neue Generation von Yuppies, die fest entschlossen ist, die Winterpaläste des Kapitalismus zu stürmen.
Als der noch nicht zweiundzwanzigjährige Disney im Oktober 1923 die Walt Disney Productions gründete – es war nicht seine erste Firma –, wurde sein Bruder mit 200 Dollar Teilhaber. Sein Onkel lehnte die Teilhaberschaft ab und wollte statt dessen seine 500 Dollar mit Zinsen zurückhaben. Rund eine Milliarde Dollar kostete am Ende den Onkel sein Geiz.
Disney, von der Filmkritik als Künstler gefeiert, hatte früh aufgehört zu zeichnen. Wenn er die Idee zu einem Zeichentrickfilm hatte, gab es einen Termin im Studio mit allen Beteiligten, und Disney spielte ihnen den Film vor. Er spielte Mickey Mouse und Goofy, Schweinchen, Schneewittchen, Bambi. Bevor sie gezeichnet wurden, waren sie alle erst einmal durch seinen Körper gegangen. Disney kroch auf allen vieren, sprang in die Luft und erfand ihre Stimmen. Soweit war er Künstler. Leider scheint von diesen Vorführungen niemals ein Film gedreht worden zu sein.
Eliot zerstört das kitschige Klischee vom anständigen Künstler und dem hinterhältigen Geschäftsmann. Der Künstler Disney war nicht weniger gemein als der Geschäftsmann, und dieser war nicht weniger kreativ als jener. Disneys gigantischer Erfolg ist vor allem auch der der konsequenten Vermarktung seiner Produkte. Er war der erste, der dafür sorgte, daß es von jeder seiner Comicfiguren auch Puppen, T-Shirts, Ohrenschützer, Mützen etc. gab. Neben diesem kalkulierenden Disney gab es den Hasardeur, der sich gegen alle seine Berater durchsetzte und den ersten abendfüllenden Trickfilm „Schneewittchen“ in jahrelanger Arbeit produzieren ließ. Er wurde einer der größten Erfolge der Filmgeschichte. Daß seine Spekulationen aufgingen, war Glück. Daß er immer wieder alles aufs Spiel setzte, war Disney. Ein Verrückter. Wie viele große Künstler, wie viele große Geschäftsleute. Auf sie kann man nicht bauen. Schon gar nicht einen Trust. In Walt Disneys Todesjahr – er arbeitete damals schon nur noch für Disneyland – beliefen sich die Bruttoeinkünfte des Studios auf noch nie dagewesene 116 Millionen Dollar. Fünf Jahre später waren es 250 Millionen Dollar. Ohne Disney hätte es sein Imperium nicht geben können, mit ihm sicher nicht mehr lange.
Disney war nicht konservativ, Disney war reaktionär. Politisch liebäugelte er mit den Nazis. Er arbeitete mit der Mafia zusammen, um die Gewerkschaften loszuwerden. Ab 1940 war Walt Disney inoffizieller Mitarbeiter des FBI. Er schrieb Berichte. Eliot ist hier nicht sehr fündig geworden. Das FBI hat kaum Akten zur Verfügung gestellt. Wir wissen also nicht, was Disney wirklich gemacht hat. Aus seinen öffentlichen Auftritten lernen wir, daß er in den McCarthy-Prozessen Leute, die ihm in die Quere gekommen waren, als Kommunisten denunzierte, um sie loszuwerden. Er war zu dieser Tätigkeit nicht gezwungen worden. Ein paar Jahre lang lebte sein Studio von Regierungsaufträgen. Vielleicht war das ein stärkeres Motiv als die Vaterlandsliebe.
Das Ende der Zusammenarbeit gestaltete sich burlesk. Ein schlecht informierter FBI-Beamter stellte Mitte der fünfziger Jahre fest, daß Walt Disney im Januar 1944 bei einer Veranstaltung der kommunistischen Zeitschrift New Masses mitgemacht hatte. Nun wurde über Disney eine Akte angelegt. Es fanden sich noch mehr belastende Auftritte. Es dauerte über ein Jahr, bis der Geheimdienst herausfand, daß Disney auf diesen Veranstaltungen gewesen war, um dem FBI darüber zu berichten.
Marc Eliot: „Walt Disney – Genie im Zwielicht“. Übersetzt von Christian Quatmann. Wilhelm Heyne Verlag, München 1994, 336 Seiten, 26 Schwarzweißfotos, 48 DM
Heinzelmänner
Im Herbst 1876 veröffentlichte der 26jährige Robert Louis Stevenson seinen Essay „Vom Sich Verlieben“. Ein auffällig hilfloser Text. Stevenson stammelt mehr, als er schreibt: „Dieser einfache Glücksfall, sich so zu verlieben, ist ebenso wohltuend wie erstaunlich. Er hemmt den versteinernden Einfluß der Jahre, widerlegt kaltblütige und zynische Anschauungen und erweckt schlummernde Empfindungsfähigkeiten zum Leben.“ Steife, umständliche Sätze, Klischees fertig aus dem Zitatenlexikon. Ein Schulaufsatz. Hier spricht kein Autor, man spürt keinen Pulsschlag, nichts als Bleisatz. Stevenson schreibt, daß über das Sichverlieben nur schreibe, wem es widerfahre, aber er schreibt nicht, daß er davon schreibt, um einen daran zweifeln zu lassen, daß es ihm widerfahren ist. Der Text ist jetzt auf deutsch erschienen, und ein knappes Nachwort belehrt uns darüber, daß er „das Resultat seiner Begegnung mit Fanny Osborne“, seiner späteren Frau, war. Man könnte viel darüber spekulieren, ob ein Übermaß an Gefühl dem Autor eher im Wege stehe als daß es ihn fördere.
„Vom Sich Verlieben“ ist ein zweiter Essay beigegeben: „Ein Kapitel von Träumen“ aus dem Jahre 1888. Der zeigt einen ganz anderen Stevenson. Hier kippt der nüchterne Ton, wir werden hineingezogen in die Alpträume eines Kindes, eines jungen Mannes, eines Autoren. Mit zwei Sätzen schnippt Stevenson unsere Phantasie an, und wir sind ihm ausgeliefert. Mit einem Punkt entläßt er uns. Stevenson zeigt, wie er seine Geschichten aus seinen Träumen konstruiert. Der Trick des Erzählers besteht darin, mit den von ihm so genannten „kleinen Heinzelmännern“, die ihm seine Träume liefern, ins Einvernehmen zu kommen. Er muß lernen, auf sie zu hören, und er muß lernen, ihnen den Gehorsam zu verweigern. Es gibt kein Rezept. Es gibt nur eine Praxis. Vielleicht hatte Stevenson sie 1876 noch nicht, und vielleicht ist sein Essay „Vom Sich Verlieben“ darum so lau.
Auffällig aber ist, daß der so unengagiert über die Liebe schreibende Stevenson dort, wo seit Jahrtausenden die Musen angerufen werden, von den so jeder Erotik entbehrenden Heinzelmännern redet.
Robert Louis Stevenson: „Vom Sich Verlieben“. Aus dem Englischen von Johanna Fürstauer. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1994, 32 Seiten, 18 DM
Heimatlos glücklich
Die Vaterlandsliebhaber sind für Vilém Flusser Dummköpfe. Sie haben sich ein Liebesobjekt ausgesucht, das sie nicht wiederlieben kann. Flusser dagegen ist nicht bereit zu lieben ohne Aussicht darauf, wiedergeliebt zu werden. Natürlich ist nicht jeder, der in seinem Enthusiasmus keinen Wert darauf legt, wiedergeliebt zu werden, ein Verbrecher oder ein Fall für den Psychiater; aber eine Liebe, die nicht riskiert, abgewiesen zu werden, ist keine. Sie leugnet die Autonomie des anderen; sie ist nicht bereit, dessen Willen zu akzeptieren. Sie zieht der wirklichen Welt die des Wahns vor. Vaterlandsliebhaber, daran erinnert Flusser, sind eifersüchtig. Sie achten darauf, daß nicht die Falschen in ihr apartes Verhältnis sich mischen. Man könnte sogar auf die Idee kommen, daß in diesen wie ja vielleicht auch in anderen Beziehungen die Liebe erst nach der Eifersucht kommt. „Türken raus“ wurde früher und wird immer noch deutlicher gebrüllt als „Deutschland, Deutschland“.
Der 1920 in Prag geborene deutsche Jude floh 1939 nach London, von dort nach Brasilien, kam in den 70er Jahren nach Europa zurück, bewohnte ein kleines Haus in der Provence. Er publizierte in Deutsch, Portugiesisch, Englisch und Französisch. Nach Brasilien war er gekommen, weil 1940 in der Londoner Botschaft Brasiliens ein bestechlicher Diplomat saß, der ihm ein Visum besorgte. Dreißig Jahre war er dabei, wie Brasilien zu einer Nation wurde. Er arbeitete ein wenig mit daran, bis ihm unheimlich wurde. Er erkannte im Staatsstreich der Armee nicht, wie die europäischen Beobachter, eine reaktionäre Intervention, „sondern die erste Verwirklichung einer brasilianischen Heimat“. Er erlebte wieder die Eifersucht der Vaterlandsliebhaber.
„Heimat“, das ist für Flusser die „Mystifikation von Gewohnheiten“, die „Sakralisierung von Banalem“. Man denkt bei diesen Formulierungen sofort an Blochs Pathos, an seinen Versuch, der Gegenseite soviel wie möglich abzuluchsen, ihr Weihrauch und Mystik nicht zu überlassen, sondern diese einzusetzen für die eigenen oft dann gar nicht so anderen Rituale. Flusser ist ein Anti-Bloch, ein Fürsprecher des Prinzips Heimatlosigkeit. Wo Bloch raunt, da überspitzt Flusser.
1984 schrieb er: „Vielleicht besteht die menschliche Würde eben darin, keine Wurzeln zu haben. So eine Entdeckung ist ein dialektischer Umschlag im Verhältnis von Vertriebenem und Vertreiber. Vor der Entdeckung ist darin der Vertreiber der aktive Pol, der Vertriebene der passive. Nach der Entdeckung wird der Vertreiber der Leidtragende, der Vertriebene der Täter. Es ist die Entdeckung, daß die Geschichte nicht von Vertreibern, sondern von Vertriebenen gemacht wird. Nicht die Juden sind ein Teil der Geschichte der Nazis, sondern die Nazis sind ein Teil der jüdischen Geschichte.“
Vilém Flusser: „Von der Freiheit des Migranten – Einsprüche gegen den Nationalismus. Texte aus zwei Jahrzehnten“. Bollmann Verlag, Bensheim 1994, 142 Seiten, 19,80 DM
Skinheads plissiert
Nick Knight ist heute einer der gefragtesten Modefotografen. Geboren wurde er vor 35 Jahren in London. Ein prächtiger Bildband informiert über seine Arbeiten. Knight begann 1979 mit einer fotografischen Skinhead-Reportage. „Gefühl und Härte“, wie man damals sagte, und natürlich in Schwarzweiß. Die jüngsten Aufnahmen des Buches sind Modefotos für Jil Sander. Ein Hauch von Kleid um eine atemberaubend schöne Tatjana Patitz. Dazwischen viel knallige Farbe. Für diese Zeitung ganz und gar ungeeignet. Leider würde auch Yamamotos roter Mantel weder von den Künsten des japanischen Designers hier etwas vermitteln noch von denen des Fotografen. Nicht jedes Medium taugt für alles. Nick Knights Arbeiten machen auch klar, wie wichtig es ist, das Schöne nicht pur haben zu wollen, wie sehr es auf seinen Kontrast angewiesen ist. Tatjana entfaltet ihr Kleid nicht wie ein Ballettmädchen, sondern sie scheint es in einem energischen Ruck zu spannen. Eine winzige Reminiszenz an die Aggressivität von Nick Knights Skinhead-Anfängen.
„NICKNIGHT. Die Photographien von Nick Knight“. Schirmer/ Mosel Verlag, 162 Seiten, 121 Tafeln, 59 in Farbe, 62 in Duotone, Festband mit Laserfolienprägung, 168 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen