"Als sei ich ein zweites Mal geboren"

■ Der 58jährige, in Berlin lebende Türke Mahmut Özpolat ist nach einem Urteil des Bundesjustizministeriums seit voriger Woche wieder frei / Auslieferung an türkische Justiz abgelehnt

Mahmut Özpolat fiele niemandem im Kreuzberger Straßenbild auf. Im Vorbeigehen würden vielleicht noch seine schwarze Ledermütze ins Auge stechen, die er leicht in den Nacken geschoben hat, und seine roten Lederschuhe.

Wer würde es dem 58jährigen Mann anmerken, daß er sechs Monate Einzelhaft in der Justizvollzugsanstalt Moabit hinter sich hat. Erst seit einer Woche ist der „Alte“, wie ihn seine Freunde nennen, wieder frei. Die türkischen Behörden hatten Ende letzten Jahres einen Auslieferungsantrag gestellt. In seiner Heimat wirft man ihm „Anstiftung zum Mord“ vor. Eine Tat, die er 1980, kurz vor dem Militärputsch in der Türkei, begangen haben soll. Die Berliner Justizbehörden reagierten schnell und steckten den alten Mann ins Gefängnis, obwohl es für den Tatvorwurf in den türkischen Unterlagen keine stichhaltigen Beweise gab. Eine längere Haft in einem türkischen Gefängnis hätte der schwerkranke Mann nicht überlebt.

Erst in der letzten Woche fällte das Bundesjustizministerium als letzte Instanz eine für Mahmut Özpolat lebenswichtige Entscheidung: Er wird nicht an die türkische Justiz ausgeliefert. Der Haftbefehl des Berliner Kammergerichts wurde aufgehoben. Özpolat kam frei.

Die Einzelhaft hat tiefe Spuren bei ihm hinterlassen: „Das war keine Haftanstalt, das war ein Kerker. In der Türkei macht man die Menschen durch Folter fertig, hier durch Einzelhaft.“ Özpolat ist Analphabet und spricht kein Deutsch. Den einzigen Kontakt zur Außenwelt hatte er durch den Besuch von Freunden einmal in der Woche. Oft, so erzählt er, habe er daran gedacht, sich umzubringen. „Ich hatte keine Hoffnung mehr. Ich wußte nicht, wann ich ausgeliefert werde, wann meine Reise in den Tod beginnt.“ Nur seinem politischen Bewußtsein verdanke er, daß er nicht verrückt geworden sei.

Wo er politisch steht, kann der „Alte“ genau definieren: „Ich bin Sozialist! Und das werde ich bleiben, bis ich sterbe.“ Bei Özpolat klingt dieses Bekenntnis nicht wie eine sinnentleerte Worthülse. Sein Leben liefert den Beweis für die Ehrlichkeit seiner Überzeugung.

Als Özpolat sieben Jahre alt war, trennten sich seine Eltern und ließen ihn sowie seine Brüder allein in einem kleinen Dorf zurück. „Um satt zu werden, mußte ich klauen gehen.“ Damals begann er, „alle Reichen zu hassen“.

Im Alter von zehn Jahren fing er an, als Weber zu arbeiten. Sein Meister verprügelte ihn täglich, schlafen mußte er in einem Obdachlosenheim. Es nährte den Haß von Özpolat auf alle Privilegierten: „Der Kapitalist schickt seinen Hund mit einem Flugzeug nach Amerika zum Arzt. Mir gab er nicht einmal einen Schuh.“

Den ersten Streik der Weber organisierte Özpolat 1962. Zwar versprachen die Arbeitgeber, den Lohn zu erhöhen, doch brachen sie ihr Wort. Auf Özpolat setzten sie bezahlte Mörder an. Er wurde niedergestochen und verlor einen Lungenflügel.

Dreimal kam er in der Türkei wegen seiner politischen Arbeit ins Gefängnis. Kurz nach dem Militärputsch flieht Özpolat nach Berlin, aus Angst verfolgt und ermordet zu werden. „Als ich hierher kam“, sagt er enttäuscht, „gab man mir nicht mal einen Paß.“ Die deutschen Behörden wollten ihn nicht als politischen Flüchtling anerkennen. Erst nach sieben Jahren erhielt er einen Flüchtlingspaß von den Vereinten Nationen. Doch der schützte ihn nicht vor seinem vierten Gefängnisaufenthalt.

Nach seiner Entlassung fühlte sich Özpolat, „als sei ich ein zweites Mal geboren worden“. Zwei Wünsche möchte er sich jetzt erfüllen: seine Familie nach vierzehn Jahren Trennung wiedersehen und sich endlich seine Zähne richten lassen. Olaf Bünger