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Kasernen zu Kongreßhotels

Abzug von Bundeswehr und US-Army macht der Stadt zu schaffen / Bürgermeister Mutz: Konversion als Chance  ■ Von Heide Platen

Gießen? Bloß weg, schnell durch. Die größte mittelhessische Stadt zwischen Frankfurt und Kassel hat ein Image, daß es die Sau graust. „Nach Gießen“, sagt auch Oberbürgermeister Manfred Mutz (SPD), „zieht man nicht, dahin wird man versetzt.“ Und Roland Kauer von der Abteilung Wirtschaftsförderung setzt noch einen drauf: „In Marburg studiert man gern, in Gießen studiert man.“ Beide meinen das natürlich nicht wirklich so. Sie sind begeisterte Gießener – geworden. Die Stadt an Lahn und Wieseck mit rund 74.000 Einwohnern ist Verwaltungs- und Universitätsstadt. Und sie war seit ihrer Entstehung Befestigung und Militärstandort. Der Ortsteil Wieseck ist 775 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. 1150 errichtete Graf Wilhelm von Gleiburg eine kleine, befestigte Wasserburg in der sumpfigen Niederung „Zu den Giezzen“, die im 16. Jahrhundert ausgebaut wurde. Das Militärische macht Gießen jetzt Probleme. Es ist vom Abzug amerikanischer und deutscher Soldaten „überdimensional betroffen“. Vier Kasernengelände stehen teils oder ganz leer. Der Verlust der Arbeitsplätze wird auf bis zu 10.500 geschätzt. Die Gießener Arbeitslosenquote beträgt 15 Prozent. Die Höhe des Einnahmeverlustes bei Dienstleistung und Handel ist enorm. Der Begriff „Konversion“, die Umwandlung militärischer Flächen, ist hier wie in allen ehemaligen bundesdeutschen Standorten harter Alltag.

Konversion ist in Gießen Chefsache

In der Psychologie ist „Konversion“ ein Fachbegriff der Symptombildung von Hysterie, in Gießen ist er Chefsache. Und da ist von Hysterie keine Spur. Seit Sommer 1991 agiert die ämterübergreifende Projektgruppe „Truppenreduktion“. Mutz stellt sein Licht nicht unter den Scheffel. In der Wirtschaftswoche lobt er, daß „der Truppenabzug in Gießen nicht als bedrohlicher Schicksalsschlag“, sondern als Chance begriffen wurde: „Gießen hatte das Selbstbewußtsein, um Veränderung als Herausforderung zu begreifen.“

Gießen habe das, was andere Städte jetzt durchmachen, sagt Manfred Mutz und gibt sich dabei ganz abgeklärt, „alles schon lange hinter sich“. Die Pro-Kopf-Verschuldung ist seit 1985 kontinuierlich auf heute 4.000 Mark gesunken, die Verwaltung rationalisiert, das Personal reduziert. „Vernetzen“ und „Bündeln“ sind zwei seiner Lieblingsworte. Die Seitenhiebe gegen das reiche Frankfurt und den öffentlichkeitswirksam sparenden Vorzeigebürgermeister Grandke in Offenbach kommen nur indirekt: „Gießen ist wirtschaftlich gesund.“ Sparprogramm und kostensenkende Modernisierung haben hier schon vor Jahren, angesichts chronisch leerer Kassen und hoher Belastungen durch das Umland, begonnen. Daß in seiner über achtjährigen Amtszeit, zusammen mit den Grünen, auch der ökologische Umbau, die frauen- und altenfreundliche Stadtpolitik umgesetzt werden, betont er mit Genuß und stapelt tief: „Wir machen nichts Spektakuläres, aber das, was mir machen, machen wir gründlich.“ Die Frauenbeauftragte Ursula Passarge bestätigt ihren Stadtchef. Gerade ist ein Frauenkulturhaus eröffnet worden, in dem die zahlreichen, vorher verstreuten Fraueninitiativen und -vereine unter einem Dach untergebracht sind: „Wir eröffnen, während andere nur noch schließen.“ Und das Frauen-Nachttaxi funktioniert: „Es wird bei uns vor allem von älteren Frauen gut angenommen.“

Aber zurück zur Konversion. Rund 190 Hektar Gelände lagen brach. Die Bundeswehr hat die Steube-Kaserne 1993 komplett geräumt, einschließlich einer funkelnagelneuen Kantine. Ein Großhandelsunternehmen meldete sich als erster Interessent, andere kamen dazu: „Die Auslastung ist gut.“ Die Rivers-Barracks sind seit Dezember 1992 verwaist. Wirtschaftsförderung ohne Infrastruktur, weiß die Leiterin der Abteilung Wirtschaftsförderung, Sabine Wilcken-Görich, ist da nur die halbe Miete. Deshalb sollen die Pendleton-Barracks Modell- Wohnprojekt, die Berg-Kaserne Kongreßhotel werden: „Man kann nicht überall Gewerbe hinsetzen.“ Die freien Flächen ermöglichen, sagt sie, nicht nur die Neuansiedlung, sondern auch einen sinnvollen Umzug eingesessener Firmen, zum Beispiel von Autohäusern aus Wohngebieten. Auch Grünanlagen, Radwege, Kulturangebote, „die weiche Infrastruktur“ müsse stimmen. Der Gießener Einzelhandel sei inzwischen ein Einkaufsmagnet der Region. Nebenbei weist sie auf eine Gießener Besonderheit in ihrem Amt hin. Vier Frauen, einschließlich der Leiterin, teilen sich die Arbeit halbtags mit einem Mann. Gießen wirbt außerdem mit einer kooperationsbereiten Universität mit dem bundesweit einzigen Studiengang Biotechnologie und dem Transferzentrum zwischen Lehre und Wirtschaft, an dem auch Friedberg und Marburg beteiligt sind. Da wird die unübersehbar verkehrsgünstige Lage zwischen den Autobahnen des Gambacher Kreuzes zum Standortvorteil, ebenso wie die Nähe zum Frankfurter Flughafen, die Eisenbahn und überhaupt „die europäische Mittellage“.

„Wir werden nicht mehr dauernd angemacht“

Die Spuren des Wirtschaftsfaktors US-Army sind im Stadtbild noch zu sehen: Tattooing Studio am Bahnhof und die einst berüchtigte Diskothek zwei Straßenecken weiter. Die Gefühle der EinwohnerInnen sind gemischt. Vor allem jüngere Frauen wirken erleichtert. Sie meinen, sie könnten jetzt auch spätabends unbefangener durch die Stadt bummeln: „Das ist nicht mehr so gefährlich. Wir werden nicht mehr dauernd angemacht.“ Belästigungen und Vergewaltigungen durch GIs, erinnern sie sich, wurden vor deren Militärgericht verhandelt, die Täter in die USA abgeschoben, „ohne daß für die betroffenen Frauen dabei etwas herauskam“. Eine meint, daß sie „jetzt wieder ohne Angst im Wald spazierengehen“ könne. Das hat aber andere, wenn auch militärische Gründe: „Die vielen Manöver sind weg.“

Tatjana, mit Kontaktanzeigen im Geschäft, mag anfangs nicht so recht reden. Aber dann nimmt sie doch Stellung. So eine gute Einnahmequelle seien die GIs für sie nie gewesen: „Das ist Kleinkram. Die haben doch nie Geld gehabt.“ Daß die Dollars einst hochbegehrt waren, „das muß vor meiner Zeit gewesen sein“. Auch die Gastwirte sind nicht ganz so erschüttert, wie zu vermuten gewesen wäre. Wie im benachbarten Butzbach waren auch hier die Jahre der rollenden Dollars längst vorbei. Örtliche Autohändler hatten trotzdem, erinnern sich Einheimische, „mehr MGs im Angebot“. Und die Sitte, das eigene Auto mit dem Ketchup der weichen Hackfleischbrötchen aus dem Drive-in zu bekleckern, ist auch schlagartig zurückgegangen.

Die Befragung endet beim obligatorischen Taxifahrer. Dem fehlen die Fahrten zu den Kasernen allerdings schon. Da bringen die Asylbewerber, die Gießen gleich nach der Räumung in den Kasernen freiwillig aufnahm, „aber mal gerade fast gar nichts“. Auch die ersten Flüchtlinge aus der ehemaligen DDR, die 1989 in der Zentralen Aufnahmestelle in Gießen landeten, hat er in eher blasser Erinnerung. Aber, tröstet er sich, „hierher kommen immer irgendwelche Leute“.

Da hat er recht. Die Militärs kamen auch in den vergangenen Jahrhunderten von außerhalb. Gießen ist seit 1607 Universitätsstadt in lutherischer Konkurrenz zum reformierten Marburg. 22.000 StudentInnen aus über hundert Nationen leben in der Stadt. Nach 1945 wurden die Flüchtlinge flächendeckend integriert. Und die Amerikaner sind nicht wirklich verschwunden. Wegen der amerikanischen Schule sind Familien aus dem Umland zugezogen. Auch Angestellte ausländischer Unternehmen wissen die amerikanische Schule zu schätzen.

Der Eingang in die Stadt könnte die Vorurteile bestätigen. Manfred Mutz möchte die Betonarchitektur, die so typisch dem sozialdemokratischen Geschmack der sechziger Jahre entspricht, aber nicht nur den Altvorderen seiner Partei angelastet wissen. Die Gießener Innenstadt ist im Dezember 1944 fast völlig von Bomben zerstört worden. Hinterher habe das Geld gefehlt, der Aufbau sei notgedrungen „schnell und billig“ geschehen. Das Hochhaus im 1961 erbauten, damals durchaus repräsentativen Rathauskomplex bröckelt. Ein Fangnetz schützt die BesucherInnen vor herabfallendem Beton. Da ist es schwer, Stadtgeschichte und Identität herzustellen. Doch es gibt, betont auch er, den kleinen Botanischen Garten, angelegt 1610, die lauschige Universität in Schloß und Zeughaus, Park, Grünzonen und Fahrradwege, Kunst, Konzerte, das Stadttheater, das Kongreßhaus, die Marktlauben, die gute Luft, die schöne Umgebung. Die wenigen Altstadthäuser sind liebevoll erhalten, einiges originalgetreu wiederaufgebaut worden. Neue Plätze sollen neue Atmosphäre schaffen. Und Gießen wirbt mit den Menschen, die hier gelebt haben. Justus Liebig, dessen Namen die Uni trägt, ist vielleicht nicht allen so lieb. Er lehrte 27 Jahre in Gießen und erfand den Kunstdünger. Mit Wilhelm Liebknecht wird es anderen nicht besser gehen. Der Arbeiterführer wurde in Gießen geboren. Stolz sind die Gießener darauf, daß Georg Büchner 1833/34 hier den „Hessischen Landboten“ schrieb. Böse Zungen sagen, er habe damit nur angefangen, „weil er sich hier so gelangweilt hat“.

Was die typischen GießenerInnen ausmache? Manfred Mutz zieht an der Pfeife und überlegt nur kurz: „Eine gewisse Weltoffenheit und ein ziemlich sturer Kopf.“ Daß die Gießener möglicherweise auch Humor haben könnten, läßt die Stadtbroschüre vermuten. Brände und Niederlagen sind so pragmatisch aufgelistet wie der Diebstahl des Kopfes vom Justus-Liebig- Denkmal und der Verfall des Rathausreliefs mit nachfolgendem Urheberstreit. Die derzeitige Rattenplage auf einem Innenstadtplatz werden sie wohl auch in den Griff bekommen. Die überdimensionierte Fußgängerbrücke zur Einkaufsstraße heißt im Volksmund „Elefantenklo“.

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