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Nichts für Faktenfetischisten

■ „Das falsche Scheunenviertel“ – ein „Vorstadtverführer“

Schon wieder ein Buch zur Spandauer Vorstadt mit der aktuellen Touristenattraktion Nr. 1, dem Scheunenviertel. Auf viel zu klein gedruckten 191 Seiten führen Ulrike Steglich und Peter Kratz die LeserInnen an der Hand durch ein Stück Berlin, wo im Moment nicht nur die meisten kulturellen Sumpfblüten der Stadt blühen, sondern Menschen auch einfach wohnen.

Im Vorwort werden „professionelle Nörgler und Faktenfetischisten“ vor dem Weiterlesen gewarnt. Bis auf die Tatsache, daß auch jüngere Menschen das Bedürfnis nach einer Lesebrille bekommen könnten, ist das Buch allerdings keineswegs eine Gefahr, sondern vielmehr eine anregende Quelle zu Geschichte und Leben der Gegend um die Oranienburger Straße und den Rosa-Luxemburg- Platz. Die AutorInnen, anscheinend MitarbeiterInnen der Stadtteilzeitschrift Steinschlag, gelernte Ossis und BewohnerInnen der Gegend, zeichnen ein schillerndes Bild dieses Viertels mit bewegender Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft, die von Spekulation und geordneter Neugestaltung bestimmt wird.

Natürlich werden die unvermeidlichen Hackeschen Höfe beschrieben. Jetzt weiß man aber wenigstens, daß sie ihren Namen von General von Haake haben, der dort zur Zeit Friedrich II. einen unfreiwilligen Wildschweinritt absolvierte und anschließend vom König beauftragt wurde, sich um den Aufbau der Spandauer Vorstadt zu kümmern, da er sich dort ja so gut auskenne.

Auch die lange Geschichte des 1844 gegründeten katholischen St.- Hedwigs-Hospitals, das von den Barmherzigen Schwestern des heiligen Karl Borromäus geleitet wird, ist selbst Kennern der Gegend vielleicht unbekannt. Das Krankenhaus war in der Nazi-Zeit Zufluchtsstätte für Juden, die gleich nebenan vom Sammellager Große Hamburger Straße nach Auschwitz oder Theresienstadt deportiert werden sollten.

Bitterböse werden die Autoren immer dann, wenn von der Wessi- Okkupation der Spandauer Vorstadt die Rede ist. Ihr Paradebeispiel ist die Aktion „37 Räume“, ein Kunstspektakel in Wohnungen und Läden um die August-, Gips- und Tucholskystraße im Juni 1992. Fazit: „Ein einziger Brei aus Peinlichkeiten und Banalität“ und ein Katalog „mit schwachsinnigen Bemerkungen“. Der Vorwurf: Das Viertel wurde nur als Kulisse mit morbidem Chic benutzt, ohne Rücksicht auf Verluste der BewohnerInnen.

Auch Kneipentips werden immer wieder eingestreut, das Café Paz in der Rosenthaler Straße 51 wird beispielsweise empfohlen, wo jeden Sonntag um 13 Uhr Dr. Seltsams Frühschoppen kabarettiert. Auch der Hinweis auf das kleine und nette Beth-Café der orthodox- jüdischen Gemeinde Addass Jisroel in der Tucholskystraße fehlt nicht.

Zum Schluß erfährt man dann auch noch, daß mit Scheunenviertel eigentlich die Gegend um den Luxemburgplatz gemeint war: ein Arme-Leute-Viertel, dessen baufällige Häuser um die Jahrhundertwende abgerissen wurden. Das Terrain, das in den 20er Jahren mit diesem Namen bezeichnet wurde – eine Gegend sozial Gestrandeter und Anlaufstelle der aus Osteuropa vertriebenen orthodoxen Juden – war schon lange nicht mehr das eigentliche Scheunenviertel.

Die AutorInnen ärgert es, daß heutzutage aus der ganzen Spandauer Vorstadt vom Luxemburgplatz bis zum Oranienburger Tor das modische Scheunenviertel gemacht worden ist. Wer dies alles über viele Seiten richtigstellt, der sollte dann allerdings konsequenterweise nicht durch „das falsche Scheunenviertel“ führen, wie es im Buchtitel heißt.

Sieht man einmal von der völlig unbrauchbaren Übersichtskarte (selbst Lupe zwecklos) und der chaotischen Literaturquellenliste ab, ist das Buch mit seinen einfühlsamen Fotos eine Bereicherung für StadtstreiferInnen. Leider verraten die AutorInnen nicht, wer sie eigentlich sind und warum sie dieses Buch unbedingt schreiben wollten. Wer zum Teil so rumholzt, von dem kann auch erwartet werden, daß er sich selbst vorstellt. Nach den zahlreichen vorangegangenen Publikationen zu den Berliner Modegegenden Spandauer Vorstadt und Scheunenviertel ist das Thema mit dieser neuesten Publikation nun wirklich erschöpfend behandelt worden. Jürgen Karwelat

Ulrike Steglich und Peter Kratz: „Das falsche Scheunenviertel – Ein Vorstadtverführer“, Verlag O. Seifert, 192 S., 54 Fotos, 22,80 DM.

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