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Öko-Nische im Ärmelkanal

Mit Anachronismus und Common sense hat sich Sark seine Eigenart bewahrt, und der real existierende Feudalismus kommt in unscheinbarer Form daher  ■ Von Robert Zimmer

Nach 45 Minuten Fahrt von St. Peter Port, Guernsey, steuert die Fähre zwischen Felsenklippen auf eine unscheinbare Anlegestelle an der Ostküste zu. Das französische Paar gegenüber starrt etwas ratlos auf die mitgebrachte Touristenkarte. Ist dies Maseline Harbour, der „Hafen“ der Insel Sark? Maseline Harbour, nach dem 2. Weltkrieg als gezeitensicherer Hafen angelegt und mit dem Inselinnern durch einen in den Fels gehauenen Tunnel verbunden, gibt sich so unprätenziös wie alles auf Sark. Sark, mit ca. acht Quadratkilometern eine der kleineren britischen Kanalinseln will entdeckt werden. Die Insel ist nur mit dem Schiff erreichbar, es gibt keinen Auto- oder Motorradverkehr, keine asphaltierten Wege und auch keine Straßenbeleuchtungen. Von Traktoren gezogene Wagen haben den Gütertransport übernommen, für die Personenbeförderung stehen Pferdekutschen zur Verfügung.

Bei Ankunft der Fähre steht Ross Henry mit seinem Traktorwagen schon bereit, um das Gepäck der Ankommenden aufzuladen. Wir wollen nach Dos d'ane, einer kleinen Ansammlung von Häusern an der Westküste. „Werft die Taschen rauf!“ meint Ross. Wir verstauen das Gepäck im vollgepackten Wagen. Wenige Minuten später fährt Ross los. Wir machen uns etwas verblüfft zu Fuß auf den Weg. Wie kann sich Ross merken, welches Gepäckstück wo abgeliefert werden muß? „Auf Sark geht nichts verloren“, sagt uns später Diane Baker, unsere Vermieterin in Dos d'ane. Sark ist ein Mikrokosmos mit etwa 550 Einwohnern, wo jeder jeden und alles kennt und die Dinge sich immer irgendwie regeln. „Nur im Sommer schließen wir nachts unsere Häuser ab – wegen der Touristen,“ sagt Diane Baker. Nachdem wir bereits in Dos d'ane eingetroffen sind, hören wir einen Traktorwagen: Es ist Ross, der unsere Taschen ablädt.

Dos d'ane (dtsch. „Eselsrücken“) ist eine von 40 Ländereien, in die die Insel bereits im 16. Jahrhundert von Hélier de Carteret eingeteilt wurde. Carteret, von Elizabeth I. mit der Insel belehnt, wurde der erste „Seigneur“ von Sark, die wie die anderen britischen Kanalinseln dem normannischen Erbe Wilhelms des Eroberers entstammt. Die im 16. Jahrhundert entwickelte Rechts- und Eigentumsstruktur der Insel hat sich in modifizierter Form bis heute erhalten. In Touristenprospekten wird die Insel häufig kokett als „letzter Feudalstaat Europas“ bezeichnet. Natürlich ist Sark politisch dem Vereinten Königreich und verwaltungsmäßig dem „Bailiwick of Guernsey“ angegliedert. Doch hat sich im Zusammenspiel zwischen dem „Seigneur“ und den „Chief Pleas“, dem Inselparlament, eine Tradition der Sondergesetzgebung erhalten, die in ihrer Mischung aus Anachronismus und Common sense die merkwürdige Eigenart der Insel erhalten hat. Auf Sark herrscht, legal und unverblümt, das Patriarchat: Ehescheidungen sind verboten und das Land erbt der Erstgeborene. Gibt es keinen, so fällt es an den Seigneur zurück. Auch hat sich die Insel nicht dem britischen Sozialversicherungssystem angeschlossen. Ausbildungshilfen oder Unterstützung im Krankheitsfall gibt es nur auf Leihbasis. Es sind paradoxerweise gerade die aus England zugewanderten Bewohner, die sich gegen innere Reformen sträuben.

Man muß 15 Jahre in Sark gelebt haben, um hier ein Haus bauen zu dürfen. Eine Aufenthaltsgenehmigung kann nur der Seigneur erteilen. Das in der EU gültige Zuzugs-, Wohn- und Arbeitsrecht gilt auf Sark nicht. Diese restriktive Ansiedlungspolitik hat dazu geführt, daß sich die Bevölkerungszahl seit etwas mehr als 100 Jahren konstant gehalten hat. Sie hat auch verhindert, daß sich die Tourismusindustrie auf Sark eingekauft und eine Infrastruktur an den Bedürfnissen der Inselbewohner vorbei entwickelt hat.

Doch auch der Feudalismus kommt in Sark in unscheinbarer Form daher: An einem Sonntagmorgen kommt mir im Zentrum der Insel, dem sogenannten „village“, ein mit Jeans und Anorak bekleidetes Paar entgegen, die Stadtrucksäcke lässig auf den Schultern. Es könnte ein ergrautes alternatives Studienratsehepaar aus Wanne-Eickel sein. Doch ich erkenne die beiden vom Bild in den Tourismusprospekten: Es sind Michael Beaumont, Esquire, seit 1974 Seigneur von Sark nebst Gattin Mrs. Diana Beaumont. „Klar“, sagt mir eine Bewohnerin, „du kannst sie immer irgendwo auf der Insel treffen; oft sieht man sie im Garten der Seigneurie arbeiten.“

Die Seigneurie, seit dem frühen 18. Jahrhundert Guts- und Amtssitz des Seigneurs, liegt ein paar Minuten nördlich des „village“ und ist eine der Hauptattraktionen für die Besucher der Insel. Garten und Park können an vier Tagen der Woche besichtigt werden. Sie enthalten historische Kuriositäten wie einige Kanonen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Sark bezieht, abgesehen von einer Kapital- und Grundsteuer, den größten Teil seiner Einnahmen aus einer Besuchersteuer, die im Fahrpreis der Fähre bereits inbegriffen ist. Die Insel ist durch Schiffsverkehr nicht nur mit Guernsey und anderen Kanalinseln, sondern auch mit dem französischen Festland verbunden. Während der Tourismus aus England eher abnimmt, kommen immer mehr Besucher vom Kontinent, insbesondere aus Frankreich. Die Franzosen können sich bei den zahlreichen französischen Häuser- und Straßennamen wie zu Hause fühlen.

Die Mehrzahl der Besucher kommt allerdings nur zu einem Tagesausflug. Sie lassen sich mit einem Pferdewagen kutschieren oder leihen sich ein Fahrrad aus und fahren die wenigen etwas breiteren Wege der Insel auf und ab. Neben der Seigneurie ist das Ziel vor allem La Coupure, die enge Wegverbindung zwischen dem Hauptteil der Insel und Little Sark im Süden. Vom Geländer, nach dem Krieg von deutschen Kriegsgefangenen angebracht, kann man einen ungefährlichen Blick auf Sarks Steilküste wagen. Wie die anderen Kanalinseln war Sark im Krieg von der deutschen Wehrmacht besetzt und hält die Erinnerung an die Besatzung in einem kleinen „War Museum“ fest.

Doch die versteckten Schönheiten der Insel lassen sich nicht an einem Tag erschließen. Sark ist Fußgängerland. Selbst das Fahrrad wirkt hier wie überflüssiger zivilisatorischer Ballast. Es sind die zahlreichen kleineren, ins Innere oder an den Rändern entlangführenden Fußpfade, die in die Klippenhänge gehauenen Treppen und die abgelegenen Buchten und Höhlen, in denen man die Insel eigentlich erst kennenlernt. Merkwürdigerweise ist man auf diesen Wegen fast immer allein, obwohl Sark im Sommer fast ständig so viele Besucher wie Einwohner beherbergt. So erreicht man auf einem hinter der Seigneurie weiterführenden Fußpfad „The Window in the Rock“, eine in den Fels gehauene Durchsicht, die den Blick auf die Bucht von Port Moulin öffnet. Oder die Steiltreppe zum Havre Gosselin, wo an jedem Wochenende Dutzende französischer Segelboote festmachen, die der Insel einen Kurzbesuch abstatten. Die zahlreichen versteckten Buchten, Durchfahrten und Höhlen sind voller Geschichten: Namen wie Smuggler's Cave oder Boutiques Caves weisen daraufhin, daß Sark einmal ein begehrter Schlupfwinkel und Umschlagplatz für Seeräuber war. Kein Wunder, daß die Insel zu einer leidenschaftlichen Liebe vieler Autoren wie Victor Hugo, Algernon Swinburne oder Mervyn Peake wurde, die immer wieder hierher zurückkehrten. Selbst nach einer Woche hat man die stillen und überraschenden Winkel der Insel noch nicht erforscht.

Sark hat erstaunlich viele Unterkunftsmöglichkeiten, Privatquartiere ebenso wie sechs kleine Hotels, die im englischen Landhausstil errichtet wurden. Doch sollte man rechtzeitig reservieren. Die verfügbaren Zimmer sind lange vor der Saison ausgebucht – oft von eingefleischten Fans der Insel, die seit vielen Jahren kommen. Im „Stocks“, dem kleinen, aber feinen Renommierhotel, in der Inselmitte gelegen, kann man sogar exzellent französisch dinieren. Gratis dazu gibt es das ungewöhnliche Schauspiel eines englischen Kellners, der sich, an französische Gäste gewöhnt, nach aufgegebener Bestellung mit einem dreifachen „Merci, merci, merci“ verbeugt – ein gelungener Slapstick, der einem im englischen Mutterland kaum geboten wird.

Abgesehen vom gelegentlichen Traktorengeräusch hört man auf Sark vor allem die Vögel und das Meer. Wem die Stille etwas aufs Gemüt drückt, der kann sich in einem der Inselpubs, zum Beispiel im „Mermaid Tavern“ ein paar „pints of bitter“ reinziehen. Ansonsten sollte man Lesestoff und gutes Schuhwerk einpacken. Als wir uns am Abreisetag auf den Weg zur Fähre nach Maseline Harbour machen, stellen wir schon routiniert unsere Taschen auf der Mauer am Wegrand ab. Irgendwann wird Ross Henry sie auf seiner Runde einsammeln. Denn: Auf Sark geht nichts verloren.

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