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In 8.000 Meter Höhe das Nichts erleben

■ Horst Kurnitzkys kulturhistorischer Essay „Der heilige Markt“

Warum laden Typen wie der flüchtige Immobilienmakler Schneider oder der Medienmogul Berlusconi und der Politiker Tapie zu massiven Identifikationen ein? Warum rufen sie zwischen knallhartem Busineß und Freizeitwelt gleichzeitig so viel Anziehung und Ablehnung hervor? Erst recht nicht zu vergessen: Warum funktioniert ein solcher Rummel um den Kaufhauserpresser „Dagobert“?

In seinem Buch „Der heilige Markt“ hält der Berliner Publizist Horst Kurnitzky implizit eine überraschende Antwort parat: Diese Typen verhalten sich geschickt und listig wie Hermes, der Rinderdieb in der antiken Mythologie. Dieser nämlich stiehlt die Rinder, verwischt seine Spuren und versöhnt mit einem kleinen Teil der Beute durch ein Opfer die allgewaltigen Götter des Olymp, damit sie ihm wie die Herren der Deutschen Bank wohlgesonnen bleiben. Hermes entdeckt auf seinen räuberischen Streifzügen, wie der Freihandel funktioniert. Das erste Mythologem des Raubes ist auch die aktuellste Doktrin der freien Marktwirtschaft aus der Schule der Chicago Boys.

Als Apollon, der Welt- und Rinderpolizist, den Dieb Hermes in seiner Höhle aufspürt, hat er sich in ein hilfloses Baby verwandelt, das in Windeln liegt und für seine Verbrechen nicht mehr verantwortlich zu machen ist. Apollon, der ihn unter Geständniszwang setzt, wird schließlich von dem Räuber mit einer Lyra bestochen, die er aus den Därmen der gestohlenen Tiere und einem Schildkrötenpanzer gefertigt hat. Die Citizen-Kane-Moral der modernen Freihandelsdoktrin funktioniert gemäß einer mythologischen Hermes-Mimikry: Raub und Bestechung oder Erpressung auf ökonomisch-politischem Sektor gehen Hand in Hand mit Sympathie- und Begeisterungsstürmen auf dem Fußballfeld oder vor der Mattscheibe.

Eine labyrinthische Kultur des Triebverzichts baut auf den frei flottierenden Geldverkehr, ablesbar an den horrenden Ablösesummen für Fußballspieler, an den Einschaltquoten der Sender, an den hinterzogenen Immobilienmilliarden, an der Politik der Treuhand. Der freie Markt ist nichts anderes als ein Feld großer Raub- und Beutezüge. Auf der Strecke bleiben am Ende „nur“ die elementaren Triebbedürfnisse der Menschen, die bereitwillig von den Rängen ihren Helden, Showmastern und Politikern applaudieren als Stimmvieh und Statisten.

Die polit-ökonomischen Analysen von Horst Kurnitzky, die in seinen ersten Büchern „Versuch über den Gebrauchswert“ (1970) und „Die Triebstruktur des Geldes“ (1974) mit einer im Gebrauchswert der Güter messianisch angelegten Sprengkraft spekulierten, setzen zeitgemäß bei einer historischen Utopie des Marktes an. Die Gegenkräfte einer solchen Utopie verortet er im Konsum und in der Katastrophe, in gesamtgesellschaftlichen Regressionsbewegungen.

Genau an diesen Stellen gewinnt das Buch „Der heilige Markt“ seine aktuelle Brisanz. Horst Kurnitzkys kulturhistorische Analysen gelten vor dem Hintergrund der freien Marktwirtschaft jenen Motiven von übermäßigem Einsatz und gleichzeitigem Fluchtimpuls, wie der Bergsteiger Reinhold Messner sie verkörpert: „Ich erlebe das Nichts am ehesten auf einem Achttausender!“ Messners Alles-oder-Nichts-Spiel, die Verknüpfung von männlicher Selbstbehauptung mit dem Wunsch, in den unbekannten Ursprung, in das Nichts aufzubrechen, ist symptomatisch für die regressive Triebökonomie des freien Marktes.

Die polit-ökonomischen Aufbrüche der Marktwirtschaft funktionieren nur entlang von Regressionsschüben: Alle Aufschwünge (Berlusconis Macht- und Medienpolitik in Italien, der „Aufschwung Ost“) sind so beutegierig angelegt wie zerstörerisch. Mit dem Schlagwort von der „Vermarktung“ sind ein regressiver Konsumrausch und ein Suchtverhalten verbunden, die für die realen Triebbedürfnisse der Menschen Entsagung und Verzicht bedeuten.

Horst Kurnitzkys kulturhistosche Anmerkungen horchen am Puls heutiger gesellschaftlicher Veranstaltungen und stellen für sie weitgefaßte und erhellende Bezüge her, die von der antiken Mythologie bis in die Chaostheorie reichen. Das Buch, obwohl gelegentlich in der Gefahr, Einzelanalysen zu überfrachten oder ein bestimmtes Suchtverhalten zu pauschalisieren, ist ein schönes Beispiel für eine spannende Essayistik. Es ist bilder- und beziehungsreich, gelehrt und aktuell. Manfred Bauschulte

Horst Kurnitzky: „Der heilige Markt. Kulturhistorische Anmerkungen“. edition suhrkamp (Bd. 1886), Ffm 1994, 198 S., 18,80 DM

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