Von Araber bis Zuschauerrekord

Das weltmeisterliche Alphabet kurz vor dem Endspurt aufgesagt  ■ aus San Francisco von Matti Lieske

„Ich tat es für jeden einzelnen Araber“, sagte Said al Oweiran, nachdem er gegen die Belgier das hübscheste aller bisherigen WM- Tore geschossen hatte. Saudi-Arabien bugsierte eine ganze Weltgegend aus dem Kuriositätenkabinett, wo sie 1982 der Scheich von Kuwait angesiedelt hatte, auf die Fußball-Landkarte.

Aus allen Erdteilen suchte er die Kinder flüchtiger Väter und die Enkel reiselustiger Großmütter zusammen, testete die moralische Integrität der Aspiranten dadurch, daß er ihnen den Kopf scheren ließ, wovon Alexi Lalas ein Lied singen kann, und formte aus einem Sammelsurium von Zweitligisten ein Team, das den besten Fußballern der Welt harte Nüsse zu knacken gab: Bora Milutinovic, bestgelaunter Trainer der Welt.

Zur Hölle auf Erden wurde für manchen braven Kicker die Cotton Bowl in Dallas, heißester der kochenden Spielorte, die die WM zeitweise zum Dehydratationswettbewerb werden ließen und eine Benachteiligung der Biertrinkernationen darstellten.

Die nackte Defensive, das mußte Norwegens Coach Drillo Olsen erfahren, kann zwar vier Punkte bringen, wenn man nur ein Tor kassiert, wird am Ende aber gerechterweise bestraft, wenn man selbst nur eines zustandebringt.

Noch nie hat eine Mannschaft aus Europa eine WM in Amerika gewonnen. Jedoch: Von 13 europäischen Teilnehmern erreichten zehn das Achtel-, sieben das Viertelfinale, was vor allem daran liegt, daß die traditionell abwehrbetonte Spielweise dank exzellenter Stürmer diesmal viele Tore produziert.

Schwer ist es, dem durchschnittlichen Spitzenfußballer, dem man jahrelang etwas von internationaler Härte vorfaselte, beizubringen, daß das Trachten nach den Beinen des Gegners neuerdings gerade dort als gelbwürdiges Foulspiel gilt, wo es besonders international wird. Vorrundenfazit: 991 Fouls, 150 gelbe, acht rote Karten.

Irgendeinen Deppen hat jede WM. In den USA sind es die so stolz über ihre Teilnahme angereisten Griechen, was diesen angesichts der Errungenschaften der weit niedriger eingeschätzten US- Amerikaner, Saudiaraber, Bolivianer und Koreaner hochnotpeinlich ist. 0:6 Punkte, 0:10 Tore.

Trotz eines Klinsmann, Bergkamp, Romario; bisher bester Spieler des Turniers ist der Rumäne Gheorghe Hagi.

Ohne Schotten und Dänen hatten die Fans aus Irland die ganze Bürde der Alkoholvertilgung und Verbreitung guter Laune zu tragen. Sie lösten ihre Aufgabe mit Bravour, weil sie anders als ihr Team genug zu trinken bekamen.

Völlig antiquiert inzwischen die Jubelposen des Jürgen Klinsmann. Einfach nur freuen reicht nicht, ein Extrakick sollte schon sein. Einsame Spitze: die Nigerianer mit Yekinis Fischnetz-HipHop.

Phänomenal: Jürgen Kohler, der Mann, dessen Frisur eigentlich schon Grund genug für einen Platzverweis ist, hat trotz neuer Regelauslegung immer noch keine rote Karte geschafft.

Nach wie vor scheitern die Linienrichter beständig an der Unmöglichkeit, drei entfernt voneinander liegende bewegliche Punkte (ballführender Spieler, vorderster Stürmer, letzter Abwehrspieler) im Auge zu behalten und zum Zeitpunkt der Ballabgabe exakt zueinander in Beziehung zu setzen.

Diego Maradona.

Wenn Mannschaften wie Nigeria sich anstelle solcher Westentaschen-Schlappis wie Clemens Westerhof afrikanische Trainer suchen, die zu ihrem Spiel passen, hat die Zukunft des afrikanischen Fußballs tatsächlich begonnen.

Ausgeschieden, aber knapper Gewinner der Konkurrenz um das ausgeprägteste WM-Ohrfeigengesicht , der Argentinier Nestor Sensini, der Josip Weber (Belgien) und Thomas Berthold (Deutschland) auf die Plätze verwies.

Was mag Carlos Alberto Parreira, 1982 mit Kuwait, 1990 mit den Emiraten bei der WM, nur dazu getrieben haben, diesmal nicht Saudi-Arabien, sondern Brasilien zu trainieren? Ausgebuht von den eigenen Fans, tagtäglich belagert von einem Schwarm in die gelben Trikots der Nationalmannschaft gekleideter Piranhas, die sich Reporter nennen. Selbst wenn er Weltmeister wird, das nächste Mal dürfte er wieder mit Bahrain aufkreuzen.

Meistgesuchtes Utensil: Quentchen Glück.

Kein Hooligan weit und breit, und wenn, dann getarnt als bravster der braven Fußballfans. Die Furcht vor den rigorosen Nachfahren Wyatt Earps läßt jeden Anflug von Randale ausbleiben, die ordentlichste WM aller Zeiten, bei der die Leute vor dem Stadion den Bürgersteig nicht verlassen, ohne daß ihnen eine huldvolle polizeiliche Handbewegung die Genehmigung erteilt, nimmt ihren Lauf.

Segnungen der Statistik: In der Vorrunde wurde 1.078mal auf das Tor geschossen, 411mal traf der Ball dieses auch. 90mal ging er hinein, was einem Durchschnitt von 2,5 pro Spiel entspricht. 234mal liefen die Spieler ins Abseits.

Völlig verkehrt die Behauptung, der Russe Oleg Salenko habe erstmals fünf Tore in einem WM- Spiel geschossen. Michelle Akers- Stahl von den Weltmeisterinnen USA schaffte dies bereits 1991 in China.

USA: siehe „Bora“.

Unterschiedlich erfolgreich: die Veteranen, die schon 1982 in Spanien oder früher WM-Luft schnupperten. Maradona blieb sich treu, trat damals mit Platzverweis, diesmal mit Dopingverweis vorzeitig ab, Hugo Sanchez, bereits 1978 in Argentinien dabei, darf nur noch sporadisch mittun, ebenso wie Roger Milla, der sich immerhin mit einem letzten Tänzchen verabschiedete. Und Matthäus beißt die Zähne zusammen.

Extrem fußballastig die Werbung im US-Fernsehen. American-Football-Größen müssen Bälle köpfen, Tab Ramos und Tony Meola preisen Süßwaren.

Weltmeister 1994: X

Der wuchtigste WM-Spieler: Yekini, Freund des Tornetzes.

Wunderbar sind die Fußballstadien dieser WM, und sie sind voll. Mit Leichtigkeit wird der World Cup 1994 einen neuen Zuschauerrekord bringen. 67.225 Menschen sahen im Durchschnitt die Spiele der Vorrunde, die bisherige Bestmarke hielt Italien '90 mit 45.003. Zwei Rekorde werden jedoch mit Sicherheit nicht fallen: die höchste Zuschauerzahl (174.000; Uruguay – Brasilien, 1950) und die niedrigste (300; Rumänien – Peru, 1930).