: Sieben ältere Herren am Fuße des Vulkans
In Neapel beginnt der G-7-Gipfel / Die Einwohner haben was davon: Altstadt frisch renoviert ■ Aus Neapel Donata Riedel
Was die mächtigsten Männer der Welt zu besprechen haben, ist den Neapolitanern vollkommen egal. Was zählt, ist, daß der Weltwirtschaftsgipfel in ihrer Stadt, am vergessenen Südende EU-Europas stattfindet. „Dieser Gipfel“, verspricht Leonardo Visconti Di Modrone, der Abgesandte des Gastgebers Berlusconi für die Vorbereitungen des Weltwirtschaftsgipfels, „wird der schönste, den es je gegeben hat. Denn Neapel ist die schönste unter allen Gipfel-Städten.“ Venezianer und Pariser, deren Städte in früheren Jahren ebenfalls Schauplatz des alljährlichen Juli-Ereignisses waren, mögen über die arroganten Worte aus Neapel die Nase rümpfen. Seit jedoch die jährlichen Treffen der G-7-Regierungschefs zum massenmedialen Ereignis geworden sind, ist keine Stadt mehr derart einhellig in Begeisterung über das Politspektakel ausgebrochen wie die Stadt am Fuße des Vesuvs. „Die ganze Welt blickt auf Neapel“, jubelt die Tageszeitung Il Mattino und präsentiert das Foto eines lachenden Bill Clinton. Das neapolitanische Gipfelfieber hat sogar die Fußballweltmeisterschaft auf Platz zwei der beliebtesten Gesprächsthemen verdrängt. Allein eine Tragödie hat die Euphorie abgekühlt: In dem algerischen Hafen Djen-djen wurden, zeitgleich mit dem Gipfelbeginn, 7 italienische Marinesoldaten, darunter 5 aus der Neapel umgebenden Provinz Kampanien, von islamischen Fundamentalisten niedergemetzelt. Ein schlechtes Omen, munkeln die Pessimisten unter den Abergläubischen und tragen Kerzen zu den Marienstatuen an den Ecken der winkligen Gassen.
„Ich weiß nicht mehr, ob ich mich auf den Gipfel freuen oder über die Opfer traurig sein soll“, fragt sich vor den Fernsehkameras der italienische Premierminister, genauso wie im Hotel der Barmann. Und die Studentinnen, die als Hostessen im Pressezentrum bunte Karten mit der Aufschrift „Das Gesicht des Friedens ist ein Lächeln der Toleranz“ als Notizzettel verteilen, runzeln die Stirn.
An den Abenden vor dem Galadiner der Präsidenten, Premiers und Kanzler aus den USA, Japan, der Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada herrscht an den Absperrgittern dichtes Gedränge, ist die Altstadt selbst um Mitternacht noch brechend voll. Ganze Familien, Liebespaare, jugendliche Motorradfahrer, sogar Behindertengruppen haben sich auf den Weg gemacht, um das Ergebnis der monatelangen Stadtrenovierung zu begutachten. Leer und gefegt glänzt die Piazza del Plebiscito im Licht der eigens angebrachten Beleuchtungskörper. Hier sollen am Samstag die Regierungschefs vor dem Palazzo Reale vorfahren. Bewacht wird die Gegend schon jetzt weiträumig – von jungen Polizisten, die man besser nicht nach dem Weg fragt: Die meisten kommen aus weit entfernten Städten und kennen sich nicht aus.
Das Volk steht am Rande und erkennt seine Stadt kaum wieder. „Es sind ja sogar alle Balkons neu gestrichen“, wundert sich eine Frau. „Ich wußte gar nicht, daß der Platz so schön ist“, staunt ein junger Mann. Natürlich haben sie gehört, daß aus Rom 50 Millionen Mark an die Stadtkasse überwiesen wurden. Daß das Geld aber tatsächlich für neues Straßenpflaster (800.000 Steine, vermeldet die Presse), frische Farbe und Putzkolonnen ausgegeben wurde, anstatt, wie nach dem letzten großen Erdbeben, in dunklen Kanälen zu versickern – den Sommernachtsspaziergängern erscheint's wie ein Traum. Das Neapel der Armut, der Straßenhändler, Drogenkuriere und Kleindiebe – es ist in wenige kleine Gassen zurückgedrängt oder hat Hausarrest in den Trabantenstädten hinter der Tangenziale, dem Autobahnring.
Doch das Attentat in Algerien hat Neapel, das schon glaubte, mit Hilfe des Gipfels über den Berg zu kommen, auf seine geographische Lage zurückgeworfen. „Das Mittelmeer“ ist hier zum Synonym geworden für Gewalt, für Armut, Terrorismus und religiösen Fanatismus, der von der „anderen Seite“, aus Afrika, herüberzuschwappen droht. Daß in Deutschland nicht nur die Bild-Zeitung, sondern auch die seriöse Frankfurter Allgemeine unter der Überschrift „Hauptstadt der Camorra“ einen Bericht der Antimafiakommission über das Organisierte Verbrechen hervorkramte, berichten alle italienischen Zeitungen. Der Frust, wieder auf „die südliche Mentalität“ (FAZ) festgelegt zu werden, die – geboren aus Bequemlichkeit – Verfall und Verbrechen hervorbringe, empört nicht nur den Bürgermeister, sondern auch den Taxifahrer.
Das Treffen der Regierungsspitzen jener sieben mächtigen Industrieländer, die drei Viertel des Weltreichtums erwirtschaften, sollen alle Besucher als angenehm in Erinnerung behalten. Dann, wenn nichts Unangenehmes die Gäste gestört haben wird – dann, so scheint hier fast jeder zu hoffen, werden die endlich intakten Fassaden heilsam auch in das Innere der Gesellschaft hineinstrahlen. Dann könnten die 800.000 neuen Pflastersteine ein Fundament bilden, von dem aus der Verfall auch der Hinterhöfe aufzuhalten wäre. Denn sitzen nicht die sonst so aggressiven jungen Männer ganz friedlich auf den neuen Umrandungen der endlich plätschernden Springbrunnen und rauchen harmlos Zigaretten, anstatt sich mit Crack aufzuputschen?
Die sieben Regierungschefs ihrerseits werden das Fest der Hoffnung nicht stören: Ein derart dünnes offizielles Programm wie in diesem Jahr hat es kaum je in den zwanzig Gipfeljahren gegeben. Und daß die hier drängenden „Gefahren des Mittelmeeres“ doch noch auf die Tagesordnung gelangen, glauben die Neapolitaner realistischerweise nicht. Gerade ein knappes Wochenende dauern die in den Vorjahren auf drei bis vier Tage konzipiert gewesenen Gespräche; und besonders zur Wirtschaft haben sich Bill Clinton, Tomiichi Murayama, Helmut Kohl, François Mitterrand, John Major, Silvio Berlusconi und Jean Chretien wenig Neues zu sagen. Das neue Welthandelsabkommen Gatt konnte unterzeichnet werden. Und die größte Sorge, die Rezession, ist entgegen allen Befürchtungen vorbeigegangen. Zur Umweltbelastung, der Kehrseite ungehemmten Produzierens, lassen sich die Sprechblasen früherer Gipfelerklärungen mühelos recyceln. Die Dritte Welt stört ernsthaft niemanden mehr im Club der Reichen, seit die Banken die Schulden in den Bilanzen steuersparend abgeschrieben haben. Nur die Arbeitslosigkeit bleibt, besonders für die wahlkämpfenden unter den Regierungschefs, ein unangenehmes Problem – „für das jedes Land am besten seine eigenen Strategien anwenden sollte“, wie Silvio Berlusconi auf einer Pressekonferenz im Palazzo Reale am Donnerstag abend das Ergebnis der Beratungen vorwegnahm.
Sogar die Russen, in Gestalt ihres Präsidenten, sind zur kalkulierbaren Größe geworden. Boris Jelzin ist schließlich zum dritten Mal dabei – und damit ein erfahrenerer Gipfelstürmer als Clinton und die drei Newcomer Berlusconi, Chretien und Murayama. Das Thema von Tokio 1993 war der Welthandel, in München 1992 waren es die Gefahren eines neuen Unfalls à la Tschernobyl und die wirtschaftliche Einbindung Osteuropas, während London 1991 noch Gorbatschow als den Befreier vom Joch des Kapitalismus feierte. Das Thema des Neapel-Gipfels? Vermutlich wird es keinem der 3.100 eigens angereisten Journalisten einfallen. Sicher, Tschernobyl steht wieder auf der Tagesordnung. Das Ergebnis von München war, daß nach und nach eine Milliarde Mark in Siemens-, Framatome- und Westinghouse-Sicherheitstechnik für GUS-Reaktoren gesteckt wurden – und die Ukraine Tschernobyl wieder in Betrieb nahm. In diesem Jahr, dem Aufschwung sei Dank, wollen die G7 möglicherweise 5 Milliarden lockermachen. Aber wie hoch müßte die Summe sein, die Geld in Macht umsetzt und gegen den Willen der ukrainischen Regierung die Stillegung der dortigen Atomkraftwerke durchsetzt?
„Nichts als leere Versprechungen“, nennen die Umwelt- und Dritte-Welt-Gruppen ihren Bericht, den sie zum Gipfel vorbereitet und gestern auf ihrem „Eco- Summit“, dem Gegenritual im historischen neapolitanischen Rathaus, vorgestellt haben. Akribisch listen sie auf, was jeweils zu den Themen Umweltschutz und Armutsbekämpfung Eingang in die Gipfelerklärungen der letzten zehn Jahre fand – und was daraus geworden ist. Auf 122 Seiten Fleißarbeit erfahren die wenigen interessierten Journalisten: nicht viel. Ungebrochen aber scheint dennoch das Vertrauen der wohlmeinenden Eco-Summit-Menschen in das Gremium der Großen. Nur drei Schritte müßten die großen Herren tun, um eine „bessere Integration von wirtschaftlichen, umweltrelevanten und entwicklungspolitischen Themen in die Nach- Rio-Welt“ zu erreichen, beschwören sie die Regierungschefs: erstens ein Sekretariat der zuständigen Minister gründen, das sich genau mit diesen Themen befaßt; zweitens eine regelmäßige Fachministerkonferenz einrichten und drittens die G-7-Einladungsliste um die Umweltminister erweitern.
Den tatsächlichen Zustand des Gipfelforums drücken hingegen die Neapolitaner äußerst treffend in jenem Signet aus, das Aufkleber, Notizblocks, städtische Busse und die Gipfel-Flagge ziert. Die Grundfarbe ist blau wie der Himmel und das Meer, auf das die Gipfelteilnehmer aus dem Palazzo Reale eine wunderschöne Aussicht genießen können. Das G und die 7 schweben etwas dunkler davor. Sie scheinen sich gleichsam aufzulösen, wie die frühmorgendlichen Wolken unter der heißen Julisonne. Nichts erinnert an die ordentlich geschachtelten Siebenecke aus München, die sieben Londoner Kreise in britischen Nationalfarben oder die dunkelgrünen Rhomben auf fadem Arbeitsgrau in Tokio. Wo Britannien einen Staatsakt mit Gorbatschow zelebrierte, die Bayern daran erinnerten, daß im Zweifel die Polizei Ruhe und Ordnung gegenüber mißliebigen Demonstranten wiederherstellt, und Japan das Kongreßzentrum auf Unterkühlung vollklimatisierte – dort lädt Süditalien ein: zum Somerfest, zur Bootsfahrt nach Ischia und abends ins Jazzkonzert auf der Piazza.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen