■ Clintons Rede am Brandenburger Tor
: Ja, und?

John F. Kennedy, so die Legende, soll seinem Nachfolger in einer Geheimschublade einen versiegelten Umschlag mit einem Geheimtip hinterlassen haben: „Wann immer Du Dich schlecht fühlst, fahre nach Berlin, die Begeisterungsfähigkeit der Berliner wird Dich wieder aufrichten und Dir Mut machen.“ Clinton muß diesen Umschlag gefunden haben.

Daheim geht es ihm bekanntlich nicht sonderlich gut. Da hat der neue Präsident die besten Absichten, möchte in Amerikas Kranken-, Sozialversicherungs- und Ausbildungssystem deutsche Verhältnisse einziehen lassen, dem Land endlich ein Minimum sozialstaatlicher Zivilisation bescheren. Das amerikanische Wahlvolk aber ist mißtrauisch bis desinteressiert, die Repräsentanten unwillig bis unfähig, über die eigenen langen Schatten zu springen. Wieviel einfacher haben es da die Deutschen mit ihrem nachgerade disziplinierten Parlament und ihrem dampfwalzenartigen Kanzler. Da muß sich der Nachfolger Kennedys mit ungebärdigen Mininationen wie Nordkorea und Haiti herumschlagen oder sich überlegen, wie er dem Völkermorden in Ex-Jugoslawien und Ruanda begegnet. Wieviel einfacher haben es da die Deutschen mit ihrem Bundesverfassungsgericht, das den Politikern sagt, was sie tun sollen!

Wir wollen nicht undankbar sein, die Amerikaner haben es verdient, hier am Brandenburger Tor ein Glas Begeisterungschampagner zu trinken. Das Terrain war gut gewählt, man soll nicht sagen, Symbole spielten keine Rolle: die Ostseite des Brandenburger Tors mit Blick auf „Unter den Linden“. 1963 drückten sich hier verstohlen und wie zufällig einige Gestalten herum, die, als Kennedy auf die Ausguckschanze kletterte, eine flüchtige, gleich wieder zurückgenommene Handbewegung machten, als kratzten sie sich mit weit ausholender Gebärde den Kopf. Heute konnten sich da Zehntausende Menschen drängen und ganz ungeniert winken. Man soll nicht sagen, das sei nicht historisch!

Aber Hand aufs Herz. Was habt ihr eigentlich erwartet? Sollte Clinton sagen: „Gemeinsam gehen wir jetzt in Jugoslawien aufräumen, und dann helft ihr uns, die Sache in Haiti wieder zu richten?“ Was soll das Gelächter über die salbungsvolle amerikanische Rhetorik, die mit dem Wort „Freiheit“ nur so um sich warf? Hätte er den Deutschen anbieten sollen, die Hälfte der Flüchtlinge und Asylsuchenden aufzunehmen? Sollte er die Marines nach Magdeburg schicken? Wo Ronald Reagan Gorbatschow noch auffordern konnte, die Mauer einzureißen, bliebe heute vielleicht nur die Kritik am britischen Premier John Major, in der Europapolitik nicht länger zu mauern. „Brücken statt Mauern“. Ja, und?

Was kann ein amerikanischer Präsident eigentlich anderes sagen, als daß Amerika immer noch zu Europa und Deutschland hält, auch wenn sich die Tagesordnung internationaler Politik geändert hat und die Deutschen heute ganz andere Aufgaben als die Amerikaner haben. Was dem einen sein Europa, das ist dem anderen das Zusammenfügen der Staaten des amerikanischen Kontinents und die Gestaltung des pazifischen Beckens. Das sind, zusammengenommen, die großen historischen Aufgaben der Zeit. Clinton hat durch Wort und Geste den Deutschen und Europäern versichert, daß die beiden Projekte sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich ergänzende Teile sind. Reed Stillwater

Publizist und Autor, lebt in Hannover