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Welches Ereignis ist eine Schlagzeile wert?

■ betr.: „Ein Freund und Helfer“, Seite 1, taz vom 6.7.94, „Weltbil der: Die taz als Passagenwerk“, Seite 1, „Kurde im Polizeigriff er schossen?“ taz vom 7.7.94

Am Mittwoch, dem 6. Juli, präsentierte die taz auf Seite 1 das Foto des Polizisten Roland Schlosser, der den Asylsuchenden Alves da C. aus einer menschenunwürdigen Unterbringung befreit hatte und deswegen verurteilt wurde. Überschrift: „Ein Freund und Helfer“. Unter dem Text: ein Spendenaufruf für den mutigen Polizisten.

Am Donnerstag ist an der gleichen Stelle die Ankündigung einer Kunstaktion in der taz untergebracht. Weiter im Inneren der Zeitung erfahre ich, daß einer der vielen „Freunde und Helfer“ den 16jährigen Halim Dener, nachdem er ihn beim Plakatieren erwischt hatte, nicht nur fahrlässig erschossen, sondern möglicherweise liquidiert hat: der Schuß auf ihn wurde weder im Straucheln noch im Nachlaufen, sondern quasi aufgesetzt abgegeben, wobei dem Opfer anscheinend der Arm auf den Rücken gedreht war. Einer der ungezählten Fälle von Selbstjustiz durch die Polizei, der wahrscheinlich auch wieder unaufgeklärt und ungesühnt bleiben wird. Die Staatsanwaltschaft wird einen Nebelschleier von sich widersprechenden Gutachten über den Tathergang legen, der dem Gericht den Blick auf die Schuldhaftigkeit der Beteiligten zur allgemeinen Erleichterung versperren wird. Bad Kleinen steht nur für eine endlose Reihe ähnlich organisierter Entlastungsoperationen für die staatsschützenden Terminatoren.

Ich möchte das Verdienst von Roland Schlosser nicht schmälern, finde auch die Entscheidung richtig, ihn auf der Seite 1 herauszustellen. Warum aber spielt die taz die himmelschreienden Ereignisse auf dem hannoverschen Steintorplatz zur Pflichtberichterstattung herunter? [...] Wo bleibt die Berichterstattung über die massenhaften bis militanten Proteste in vielen Städten? Wo bleibt die eigene Recherche? Wo bleibt die Emphase der taz als Institution?

Vor 26 Jahren hat ein Polizist einen unbewaffneten Studenten während einer Demonstration erschossen. Der Mord an Benno Ohnesorg blieb ungesühnt, aber er hat eine ganze Generation in Bewegung gesetzt. Kinder und Enkel dieser Bewegung sitzen heute noch in der Redaktion der taz. Warum finden sie die Tatsache, daß ein Jugendlicher beim Plakatieren liquidiert wird, weder einer Schlagzeile noch eines Kommentars würdig?

[...] Frühere Empörung über die Selbstherrlichkeit und Willkür der Staatsmacht hat sich in Angst verwandelt, nachdem sie selbst keine Antwort mehr auf institutionalisierte Unmenschlichkeit, die diese Gesellschaft regiert, wußten. Wer sich von seiner Angst überwältigen läßt, neigt dazu, deren Ursache zu tabuisieren, herunterzuspielen oder zu rationalisieren, sich also quasi in ihrem Schatten zu verstecken: Mordende Polizisten?! Wo denn? – Alles Propaganda! Lügenstrickende Staatsanwaltschaften, Gutachter und Gerichte?! Unsinn – Alles Verschwörungstheorien! Widerstand?! Unnötig – Es reicht eine kleine Anfrage und ein Untersuchungsausschuß! [...] Imma Harms, Berlin

Ich kann Euch nicht verstehen. In der Ausgabe vom 5.7. druckt Ihr unkommentiert einen dpa-Artikel zum Tod des 16jährigen Halim Dener. Wäre in der Überschrift nicht ein Fragezeichen plaziert, so könnte man annehmen, daß dieser Artikel aus einer Boulevardzeitung stammt. Nicht nur, daß Eure bisherige Berichterstattung damit eliminiert wird und Halim Dener jetzt doch plötzlich wieder Ayhan Eser genannt wird, Ihr werft mit der ungeprüften Übernahme des Textes alle Zeugenaussagen in den Papierkorb. Sollte man mit Polizei- und Staatsanwaltsberichten über den Tathergang nicht entschieden differenzierter umgehen? [...] Die Öffentlichkeit wird ohnehin auf eine wahrheitsgemäße Aufklärung des Todes an Halim durch die staatlichen Behörden genauso lange warten müssen wie bei Bad Kleinen, und warten und warten und ...

Wenn Leute, welche der Regierung nicht so recht in den Kram passen, schon beim Kleben von Plakaten das Risiko eingehen müssen, erschossen zu werden, so fragt sich doch, wie steht es mit unserer Demokratie. [...] Thorsten Schaumburg,

SchülerInnen gegen Nazis –

Hannover und Landkreis

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