: Rebellion der Schwellenwesen
■ Peter Stoeckls Studie über die Rituale der Mühl-Kommune
Ende der siebziger Jahre rennen glatzköpfige Kommunenmitglieder in Sträflingsanzügen durch Wien. Den Schnuller im Mund, die Spielzeugpistole im Anschlag, geben sie der bürgerlichen Umwelt Saures. Oder im Soziologendeutsch: „Übergangsrituale“ begleiten das Erwachsenwerden; wo es der Gesellschaft an ihnen fehlt, werden sie erfunden.
Das ist der Kerngedanke der soeben erschienenen soziologischen Studie über die legendäre österreichische Kommune um den Künstler Otto Mühl. Peter Stoeckl versucht, den Werdegang dieser „utopischen Gemeinschaft“, ihren Riten-Haushalt nachzuzeichnen.
Erfrischend und ohne den Brustton neo-konservativer Belehrung informiert das Buch über Leben und Sterben eines Wohnexperiments, das im Sommer 1970 ungeplant entstand. Um nicht zu vereinsamen, scharte der spätere Anführer Otto Mühl Jugendliche in seiner 120 Quadratmeter großen Wohnung um sich.
Ein Glücksfall brachte Stoeckl ins Untersuchungsfeld. Er wurde schlicht und einfach von einem Kommunarden aus dem Hörsaal gerufen. Ob nicht einer eine „kulturwissenschaftliche Studie“ über seine Kommune machen wolle?
Stoeckl tat es. „Über schneeverwehte Schotterpisten“ fuhr er im Winter 1991 zum Mühlhof an der ungarischen Grenze. Das Image des alternativen Vorzeigeobjekts war bereits ramponiert, kurze Zeit später landete der Anführer für sieben Jahre hinter Gittern. Immerhin konnte Stoeckl in zahlreichen Einzelgesprächen herausfinden, warum es kam, wie es kam.
Die gesprächswilligen Kommunarden besuchte er fortan alle 14 Tage, auf der Suche nach „Übergangsritualen“: Rebellierende Jugendliche sind – laut Arnold van Genneps 1909 entwickeltem Konzept – „Schwellenwesen“, die sich nicht mehr im bürgerlichen „Hier“ bei Mama und Papa, aber auch noch nicht in einem Zustand der Wiedereingliederung in die Gemeinschaft befinden. Sie brauchen für den Übergang rituelle Stützen, und seien es selbst erfundene wie die Kommune-Rituale.
Instruiert durch ein solches Phasenmodell, gelingt es Stoeckl leicht, die Kommunengeschichte, die den Mitgliedern im Rückblick als „irrsinnig toll“, aber auch mit „ziemlich schwarzen Seiten“ erscheint, in gut lesbare Sequenzen zu bringen. Darüber hinaus kann Stoeckl in den einzelnen Entwicklungsstadien Sinn und Wandel einzelner Riten verdeutlichen. Anfangs schüttete sich der „Adept“ einen Müllkübel mit Inhalt über den Kopf – kein Wunder, daß der Initiationsritus zugleich Selektionsfunktion hatte und viele abschreckte. In späteren Phasen dagegen läuft der Einstieg – via „Workshops“ als Appetitanreger – schon komplexer ab. Nicht alle bleiben drin: Schon früh gibt es Aussteiger wie Abweichler: Menschen, die an den Gruppennormen – „Schlagfertigkeit, sexuelle Attraktivität und Geschick im Umgang mit Menschen“ – scheitern.
Stoeckls Interpretationsbasis sind vor allem Ansätze der „verstehenden Soziologe“: Aus Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns Rüstkammer nahm er das Konzept der „gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit“, wo Orientierung vergleichbar wird mit Häuserbauen: gibt es Risse in den Wänden (= Überzeugungen), muß kollektiv gekittet werden und man holt – vorrangig zwei – Stützkonzepte aus der Schublade. „Therapiert“ und sanktioniert wird nach innen gegen Abweichler, die sich in der Erstarrungsphase mehren und null Bock auf die „Selbstdarstellungsabende“ zeigen. „Nivelliert“, sprich „runtergeputzt“ nach außen, wird schon am Anfang, denn die eigene Identität profiliert sich gut gegen die bürgerlichen „Wichtel“ in Hemd und Schlips.
Last not least wird Goffmans „Stigma“-Begriff benutzt, um verständlich zu machen, warum es junge Leute in Sträflingskleidern und glatzköpfig auf die Wiener Straßen treibt: Übertreibt man die eigene Stigmatisierung, kommt man den Angriffen der Außenwelt zuvor und kann fortan im abgeschlossenen Gruppeninnern an einer kollektiven Identität basteln.
Die meiste Mühe verwendet Stoeckl auf Phase 3: „Erstarrung und Rückzug“. Gleich zu Anfang seines Buches hat er in vier einprägsamen, dichten Bildern dem Leser den rapiden Wandel der Kommune vor Augen geführt. Bild 3 zeichnet nun eine streng hierarchische Gemeinschaft, die ironischerweise den eigenen Kommune-Kindern Rebellion strengstens untersagt. Viele Kommunarden pendeln wohlangepaßt zwischen dem Mühlhof und Großstadtbüros, und der Anführer versinkt endgültig im eigenen Weihrauch – er hat sogar Dokumentare zum Archivieren seiner Tischreden angestellt. Spätestens jetzt will der Leser Auskunft darüber, ob das Scheitern der Kommune primär von der Despotie des charismatischen Anführers herrührt, systemimmanent oder was auch immer ist? In diesem wichtigen Punkt bleibt Stoeckls Antwort undurchsichtig. Er hat zwar recht, wenn er die beachtliche Lebensdauer der Kommune nicht als Erfolgsindikator wertet. Was jedoch fehlt, ist die Reflexion auf sein Theorem des „Übergangsrituals“. Denn es neigt dazu, das Kommuneleben von vornherein zum Durchgangsstadium zwischen Trennung vom Zuhause und Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erklären. Ob die Rückkehr zur Gesellschaft fest einprogrammiert ist und der Tausch der Sträflingsjacken gegen Nadelstreifen unvermeidlich, erfährt man nicht. Stoeckls lyrischer Schlußsatz suggeriert trotzdem eine Zwangslogik des Scheiterns: „Wer die gelebte Utopie bejaht, begrüßt deren Vergänglichkeit.“ Gerd Michalek
Peter Stoeckl: „Kommune und Ritual. Das Scheitern einer utopischen Gemeinschaft“. Campus Verlag, 230 Seiten, 38 Mark
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