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Struppiger Antiheld mit Lederjacke

■ Mit Jens Scheer verlor die Anti-AKW- Bewegung einen wichtigen Mitstreiter

Bremen (taz) – Von Wyhl bis Brokdorf stand er bei den Anti- AKW-Schlachten der siebziger Jahre in vorderster Front. Vom Berufsverbot bis zu endlosen Strafverfahren hat er jahrelang als beamteter Universitätsprofessor mit dem Staat gestritten. Und als Atomphysiker war er zu einem der international gefragtesten Fachleute für die gesundheitlichen Auswirkungen schwacher radioaktiver Strahlungen avanciert. Am Montag starb Jens Scheer im Alter von 59 Jahren an seinem zweiten Herzinfarkt.

Als Sohn einer Lehrerin und eines Oberstaatsanwalts wurde Scheer 1935 geboren. Er interessierte sich für Archäologie, lernte Hethitisch und Sumerisch, studierte dann Physik und Astronomie in Hamburg und Heidelberg. Für ein Jahr war er anschließend Stipendiat am Lawrence Radiation Laboratory in Berkeley, USA, dann wissenschaftlicher Mitarbeiter und Strahlenschutzbeauftragter am Berliner Hahn-Meitner-Institut. Dort entwickelte er sich während der Studentenbewegung vom braven Physiker zum Kämpfer gegen die Atomlobby. Daß er sich später auch der maoistischen KPD anschloß, trug ihm Mitte der 70er Jahre Berufsverbot und Hausverbot an der Bremer Uni ein, an die er inzwischen als Gründungsprofessor berufen worden war. Zahlreiche Disziplinarverfahren, eine Telefonsperre und Gehaltskürzungen folgten. Erst Mitte der 80er Jahre war er nach Dutzenden Prozessen juristisch vollständig rehabilitiert. Wissenschaftlich hatte er es sich wegen seiner radikalen Kritik an der Atomwirtschaft allerdings mit den meisten Kollegen völlig verscherzt. Das änderte sich erst mit der Atomkatastrophe in Tschernobyl. Als „traurigen Triumph“ bezeichnete Scheer es selbst, daß sich über Nacht seine infernalen Prognosen bestätigt hatten. Plötzlich war der unbequeme Bremer Physiker überall gefragt, wurde als Berater nach Bonn und Brüssel gerufen und von den Medien als Antiheld entdeckt: der Professor mit struppigem Bart und Lederkluft, der sich auch zu militanten Aktionen gegen die Atomkraftgefahr bekannte. Schon als KPD-Aktivist warnte Scheer die chinesischen Genossen freundschaftlich vor der Atomenergie und kritisierte die sowjetische Katastrophen-Technologie frühzeitig in aller Schärfe. Tagelang hatte er auch in Brokdorf vor den großen Demonstrationen mit der Bevölkerung geredet, er kannte Bauern, die in den Scheunen Baumstämme für die Stürmung des hermetisch abgesperrten AKW-Bauplatzes lagerten. Beim Durchbrechen von Polizeiketten stand er stets in erster Reihe. Beliebt war Scheer nicht nur in der Anti-AKW-Szene von Gorleben bis Wackersdorf. Auch seine StudentInnen hat er weit mehr als andere ernst genommen und sie in Forschungsprojekte eingebunden. Bereits Anfang der 70er Jahre betrieb er an der Berliner Freien Universität eine Reform des Physikstudiums, um dann später an der neugegründeten Reformuni Bremen das zu verwirklichen, was er in Berlin begonnen hatte. Wissenschaftlich befaßte er sich zuletzt mit Röntgenfluoreszenz, einer Methode zur Verbesserung des Nachweises von Schwermetallen in der Umwelt. Dirk Asendorpf

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