: Bauchlandung nach bösem Foul
■ Wäre Italien am Sonntag Fußballweltmeister geworden, Silvio Berlusconi hätte womöglich in der Frage des umstrittenen Sonderdekrets zur Entlassung Tausender Häftlinge kaum Widerspruch geerntet. Doch das ...
Wäre Italien am Sonntag Fußballweltmeister geworden, Silvio Berlusconi hätte womöglich in der Frage des umstrittenen Sonderdekrets zur Entlassung Tausender Häftlinge kaum Widerspruch geerntet. Doch das Volk war aufmerksam. Die Rechtfertigung des Möchtegern-Alleinherrschers geriet zum Debakel.
Bauchlandung nach bösem Foul
Wenn Silvio Berlusconi sich unwohl fühlt, flunkert oder jemanden aufs Kreuz legen will, fängt er, ansonsten immer eine Hand fest in die andere verschränkt, wild zu gestikulieren an. Seit er Regierungschef ist, hat das noch niemand bei ihm beobachtet. Doch nun, am vergangenen Dienstag abend, ruderte er derart mit den Armen herum, daß man meinen konnte, er wolle nachholen, was er monatelang unterlassen hat. Die Begründung, mit der er sein Dekret zur Entlassung Tausender Häftlinge rechtfertigte und die dabei „ganz nebenbei“ vollzogene Befreiung korruptionsverdächtiger Politiker und Manager zu verdecken suchte, geriet geradezu zum Debakel. Mal sollen es Urteile des Europäischen Gerichtshofes gewesen sein, die ihn unter Umgehung des Parlaments zu dem eiligen Sonderdekret mit sofortiger Wirkung getrieben hatten, mal waren es die anstehenden Ferien. Dann wieder angebliche Meinungsumfragen, denen zufolge eine repräsentative Mehrheit ein „Ende der willkürlichen Inhaftierungen“ gefordert haben soll.
Was der irritierte Regierungschef oder sein Lautsprecher Giuliano Ferrara auch vorbrachten – es zerfloß innerhalb weniger Minuten „zu einer rechten Farce all'italiana“, wie die konservative Tageszeitung la Voce des einstigen Berlusconi-Freundes Indro Montanelli süffisant feststellte. Konfrontiert mit der Frage, wann denn der Gerichtshof zuletzt Italiens Praxis gerügt hatte, mußten die Sprücheklopfer der Regierung passen (es liegt bereits über zwei Jahre zurück). Und daß die Ferien kein Argument sind, bewiesen die Matadoren selbst: Jetzt, da das Dekret gekippt ist, wird es innerhalb von nur 24 Stunden als Gesetzentwurf vorgelegt, der ohne weiteres vor dem großen Ferien-Exodus der Italiener verabschiedet werden kann. Nun allerdings unter Einschluß der U-Haft-Würdigkeit auch jener Delikte, die Berlusconi so gerne getilgt hätte und wofür er bei seinen Wahlhelfern schwer im Wort stand: Korruption und Erpressung von Parteispenden. Unter seinen Politgönnern etwa der frühere Reigerungschef und Sozialisten-Sekretär Bettino Craxi, gegen den zur Zeit mehr als 20 Ermittlungsverfahren laufen.
„Wären da nicht die Tausenden armer Teufel im Knast, die tatsächlich wegen geringer Delikte und ohne irgendwelche sachliche Not einsitzen“, meint il manifesto, „man könnte nur noch eine Satire darüber schreiben: Rein in den Knast, raus aus dem Knast, und wieder rein“ ... In der Tat steht Italiens Justiz vor einem Chaos: mehr als zweitausend Personen wurden freigelassen, auch nachdem die Regierung das Dekret zurückgenommen hatte. Erst mit der Verkündung der Rücknahme im Staatsanzeiger wird die Freilassung hinfällig, und die Staatsanwälte fahren mit der Freilassungsaktion fort, „solange das Dekret gilt – genau wie die Regierung uns das aufgetragen hat“.
Tatsächlich hatte Justizminister Alfredo Biondi, der das Dekret ausgearbeitet hatte, die Ermittlungsrichter und Gerichtsvorsitzenden hart gerüffelt, als diese die offenkundige Makulatur all ihrer Antikorruptionsanstrengungen der vergangenen Jahre beklagt hatten, sie sollten sich um ihren verfassungsmäßigen Auftrag kümmern: die Anwendung der Gesetze und nicht um die Kritik derselben. Nun hat er den Salat. „No comment“, sagen die aus Protest zurückgetretenen Sonderermittler um Italiens populärsten Staatsanwalt Antonio di Pietro zur Rücknahme des Dekrets – und grinsen dabei so breit, daß man vor Vergnügen einfach mitlachen muß. Rache ist süß: Nun lassen sie den Minister bis September braten, bis sie ihm ihre Entscheidung mitteilen, ob sie ihre Demission zurückziehen oder nicht.
Unstrittig ist, daß nach Rücknahme des Dekrets die Grundlage für die Freilassungen entfallen ist. Aber ganz so einfach geht das auch wieder nicht. Inzwischen sind ja vier Tage vergangen, und das könnte, nach juristischer Mehrheitsmeinung, durchaus „neue Gesichtpunkte über die Opportunität der erneuten Inhaftierung“ gebracht haben, so ein ehemaliger Verfassungsrichter. Im Klartext: In einem Land, wo die Behörden ohnehin schon seit Jahren mehr als elf Millionen Prozesse vor sich herschieben, müssen die Staatsanwälte nun zusätzlich zu ihrer Arbeit in jedem Einzelfall prüfen, ob man wieder verhaften muß oder nicht – mit all seinen Einspruchsmöglichkeiten und Verzögerungen, Gutachten und Gegengutachten. Eifrige Rechner haben bereits einen Schaden von umgerechnet über 40 Millionen Mark ausgemacht, der durch das Dekret auf den Steuerzahler zukommt.
Inzwischen versucht Berlusconi fast schon verzweifelt, noch ein paar Pluspunkte herauszuholen. Er habe ausschließlich das „Wohl des kleinen Mannes“ im Auge gehabt und sehe ansonsten der Zukunft „vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht mit großen Hoffnungen entgegen“. Dabei zieht in Italien die Konjunktur schleppender an als anderswo, die von Berlusconi großspurig angekündigte Million neuer Arbeitsplätze ist in weiter Ferne, und die Währung stolpert seit Dienstag weit über tausend Lire für eine Mark, nachdem immer wieder Rücktrittsgerüchte aufgekommen waren.
So mancher Kommentator nimmt die Rückkehr zum gewohnten italienischen Komödienstadel erleichtert hin – das Weltbild kommt wieder in Ordnung. „Wenn er so was noch mal vorhat“, bringt der stellvertretende Chefredakteur von la Voce, Federico Orlando, die Sache auf einen typisch italienischen Punkt, „soll er das künftig nicht gerade zur Mittagszeit ankündigen. Ich jedenfalls habe mein Essen verpaßt und den Espresso kalt werden lassen. Und das macht er mir nicht noch mal.“ Werner Raith, Rom
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