■ Italiens Gemüsemärkte im Kampf gegen Überdachung: Futterbunker statt Gaumenparadies
Terracina (taz) – Mathilde Schlögl aus München, seit dreißig Jahren „treue Terracina-Fahrerin“, kann es „einfach nicht fassen“; ihre Ferien-Nachbarsfamilie Linon schlägt „die Hände überm Kopf zusammen angesichts derartiger Ignoranz“; und Bernd Thalmeier, Psychologe aus Remscheid, vermutet gar „autodestruktive Kräfte“ am Werk. Gegenstand des allgemeinen Entsetzens ist die Räumung des täglichen Gemüse- und Fischmarktes im Stadtzentrum von Terracina – genauer gesagt: jenes Teiles, der vor der Markthalle zu finden war.
Das Verbot der Gemeinde, die Tag für Tag neu aufgestellten „Bancarelle“ außerhalb der knapp 800 überdachten Quadratmeter in der Via del Rio weiterzubetreiben, liegt zwar schon einige Zeit zurück, doch die Touristen kommen ja in der Regel nur einmal im Jahr und bemerken erst dann die Bescherung.
Dabei war der Teil des Marktes, der im Freien betrieben wurde, die eigentliche Attraktion. Nun, da die Verkaufsfläche auf den Innenraum des Mauerwerks mit Wellblechdach eingeschränkt ist, gehen neben der Kaufvielfalt auch ästhetische Werte verloren: Je nach Jahreszeit Berge von Apfelsinen, Trauben, Pilzen, Auberginen, Artischocken, Broccoli und dazwischen die Kochgewürze, frische oder getrocknete Kräuter, Basilikum, Majoran, Salbei, Thymian, Rosmarin.
Nur wenige Schritte entfernt, ebenfalls unter freiem Himmel, lag der Fischmarkt neben den eintuckernden Fischerbooten – kein Wunder, daß sich der legendäre Gourmet Lukull in dieser Gegend gleich mehrere Domizile gebaut hat. Spigola und Cefalu, Orata und Cernia, Gamberi und Sepie, Cranchi, Cozze, Vongole – das ganze Arkanum des Meeresgetiers ballte sich da vor den Augen der Touristen, die in der Regel allenfalls Sogliola (Seezunge) und Scampi (Zangenkrebse) mit Namen kennen. Nur allermutigste Marktfrauen und wenige Fischer trotzen dem Verbot und bringen ihre Gemüsekarren und die tropfenden, eisbedeckten Kisten mit Fisch in Stellung – immer gewärtig, daß die Obrigkeit erneut einschreitet und die Händler verjagt.
Wie in Terracina sind derzeit auch andere italienische Gemeinden bemüht, die offenen Märkte von den Piazze zu vertreiben und in unattraktive, unbehagliche Gebäude abzudrängen. Selbst in Rom versuchten die Städtväter schon mal, legendäre Freimärkte wie den hinter der Piazza Vittorio Emanuele II, der schon oft als Filmkulisse diente, abzuschaffen; Bürgerproteste haben das bisher verhindert. Die Verwaltungen begründen ihre Bestrebungen mit Hygienevorschriften, mit der Straßensicherheit, mit baupolizeilichen Anordnungen oder mit Chancengleichheit.
Die Ware soll nicht den vom Himmel rieselnden Umweltgiften, den Autoabgasen und dem Straßenstaub ausgesetzt sein, begründet zum Beispiel Rom seinen Kampf gegen die Freiständler. Dem halten die Händler entgegen, daß die Früchte und das Gemüse ja zunächst mal im Freien wachsen – waschen sei vor dem Verzehr sowieso immer nötig, egal woher die Ware kommt.
Auch das Argument der verkehrsgefährdenden Straßenverunreinigung durch Obst lassen die Verkäufer nicht gelten – fleißige Putzkolonnen haben den Abfall noch immer beseitigt. Dort, wo die Märkte verboten wurden, entstand erst richtiger Schmutz, weil statt der Stände nun Autos in mehreren Reihen parken und die Reinigung verhindern.
Am Ende bleibt immer nur ein einziges Argument – das wirtschaftliche. Man habe die überdeckte Halle, schimpfen die Stadtväter Terracinas, doch für teures Geld renoviert, um den Markt wetterunabhängig zu machen: schattig im Sommer, regengeschützt im Winter. Nun fühlten sich jene durch die Konkurrenz „draußen“ düpiert, die den Umbau durch Anmietung der Hallenstände mitfinanziert haben.
Der Streit hat abstruse Folgen: Weil die von draußen Vertriebenen ihre Ware irgendwie loswerden müssen, hat ihnen die Gemeinde in der Halle Standplätze zugewiesen – 150 Lizenzen wurden vergeben, doch die Halle bietet nur Platz für 60. So gab es Rangeleien um jeden Zentimeter, einst problemlos nebeneinander verkaufende Freunde sind zu erbitterten Feinden geworden. Touristen haben die Lust verloren, dort hineinzugehen und in qualvoller Enge und bei drückendem Gestank „schnell mal ein Kilo Tomaten und zwei Scheiben Thunfisch zu erstehen“, wie Bernd Thalmeier murrt. Mathilde Schlögl fährt lieber ins nahe Fondi oder nach San Felice, wo die Gemeinden noch nicht so dümmlich zugeschlagen haben.
Neueste Idee zur Lösung: Die Händler sollen täglich eine Art Wettrennen veranstalten. Die ersten 60, die sich am frühen Morgen am Markttor präsentieren, bekommen Zutritt, der Rest soll sich mit einem weit abgelegenen Betonbau zufriedengeben, der auch mal als Markthalle konzipiert war, aber von den Käufern wie den Verkäufern nie so recht angenommen wurde.
Vorschläge zur Güte gibt es genügend – am plausibelsten der von den Linksdemokraten eingebrachte Antrag: Danach sollen die Bancarelle außerhalb des Marktes ausschließlich den sogenannten „Dilettanti“ zugeschlagen werden; Bauern und Fischer aus der Umgebung, die nur ihre frische Ware verkaufen dürfen und sonst nichts, während die Händler drinnen den gesamten Bereich auch eingeführter oder aus anderen Regionen herbeigeschaffter Früchte anbieten dürfen. Ein Großteil der Fische und anderer Meerestiere wäre dann nur in der Halle zu erstehen, was den „Standortvorteil“ draußen mehr als kompensieren würde.
Nach reiner Arithmetik müßte der Plan eigentlich durchkommen, denn die Linksdemokraten stellen in Terracina den Bürgermeister. Doch der steht einer Koalition mit den Neokommunisten vor, und von denen kommt der Handelsdezernent. „Und der“, schimpft ein abgewiesener Freihändler, der jetzt in einer Nachbarstadt verkauft, „hat bekanntlich selbst einen Stand – im überdachten Markt.“ Werner Raith
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