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Privatisiert wird doch

Nach der formalen Ablehnung verständigen sich Duma und Jelzin auf einen Kompromiß  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Die russischen Staatsbetriebe, die bis zum 1. Juli noch nicht privatisiert waren, müssen ihre Aktien künftig für Geld verkaufen. „Post- Voucher-Privatisierung“ nennt sich das Programm, das von der Duma, dem russischen Parlament, zunächst abgelehnt worden war. Gestern nun zeichnete sich ein Kompromiß zwischen der Parlamentsmehrheit und Präsident Jelzin ab, der das Programm jetzt per Dekret einführen wird.

Die Abgeordneten waren vor allem darüber verärgert, daß sie den Regierungsentwurf erst in letzten Woche vor den Parlamentsferien bis zum 5. Oktober zu lesen bekamen. Den Kommunisten und den Nationalisten in der Duma mißfiel vor allem, daß künftig den Betriebskollektiven nur noch zehn Prozent der Aktien zu Vorzugsbedingungen angeboten werden, anstatt wie bisher 51 Prozent. Daß künftig auch der Grund und Boden als Betriebsvermögen verkäuflich ist und auch soziale Einrichtungen, wie Sanatorien, unter den Hammer kommen sollen, verärgerte sie zusätzlich.

Dafür forderten viele von ihnen ein größeres Mitspracherecht lokaler Instanzen bei der Auswahl der zu versteigernden Unternehmen. Noch in der Nacht zum Donnerstag flickten der Vorsitzende der staatlichen Privatisierungsbehörde, Anatolij Tschubais, und sein politischer Hauptkontrahent, Ex-Finanzminister Sergej Glasjew, das Gesetzesprojekt an 29 Stellen – entsprechend der Verbesserungsvorschläge der Fraktionen.

„Wenn Tschubais es geschafft hat, sich mit Leuten wie Glasjew zu einigen, dann sollten wir vom Resultat die Finger lassen“, staunte Ökonomie-Guru Grigorij Jawlinski und rief das Parlament auf, „dafür“ zu stimmen. Für die erforderliche Zweidrittelmehrheit fehlten dann nur noch 30 Stimmen. Sprecher Iwan Rybkin führte dies auf die „Faulheit der Minister und Premiers“ zurück, die sich „nicht überwinden können, auf den Plenarsitzungen zu erscheinen“.

Indem Ende 1992 Anfang 1993 alle RussInnen, ohne Ausnahme, einen Voucher bekamen, wurde der Anschein geweckt, als erwürbe nunmehr das gesamte Volk zu gleichen Rechten, was man bisher von den Tribühnen lauthals als sein Eigentum deklariert hatte. Fast 70 Prozent der russischen Industrie sind so privatisiert worden. Nach Abschluß des Programmes wird nun viel gemäkelt: Der kleine Mann und die kleine Frau von der Straße sind enttäuscht, daß ihnen ihre Aktien angesichts der Krise der Volkswirtschaft keine Dividenden bringen. Durch allerhand Tricks haben sich viele rote Direktoren die Mehrheitspakete ihrer Betriebe erschlichen und schalten und walten dort wie eh und je.

Und doch hat Anatolij Tschubajs recht, wenn er sagt: „Keine Partei wird es sich in Zukunft leisten können, 40 Millionen Aktienbesitzer ihres Eigentums zu berauben“. Schließlich arbeiten über die Hälfte aller russischen Industrie- Beschäftigten in Privatbetrieben, haben Millionen von ihnen gelernt, was eine Aktie und was eine Dividende ist, und verfolgen täglich die Börsenkurse.

Die Operation ist also gelungen, fast tot bleibt allerdings der Patient auf dem Tisch. Die Unternehmen haben nämlich für ihre Aktien nicht das so dringend benötigte Geld bekommen, sondern nur einen Haufen kleiner Papierchen, die in wenigen Tagen völlig wertlos sein werden. Inzwischen rosten die Maschinen, und die gegenseitigen Schulden der Betriebe untereinander erreichen astronomische Höhen. Kapital in die Produktion zu pumpen, dies wird die unabweisbare Aufgabe der zweiten Privatisierungsphase sein. Ganz dagegen ist deshalb niemand außer der Liberaldemokratischen Partei Wladimir Schirinowskis.

Parlamentssprecher Iwan Rybkin zeigte sich gestern mit der Arbeit der Duma zufrieden und hofft, daß der ausgearbeitete Privatisierungs-Kompromißvorschlag zur Grundlage des Präsidenten-Ukases wird. Dies sagte Boris Jelzin zu, erweicht von soviel Konstruktivität. Jelzin-Berater Georgij Satarow sagte gestern zudem, der Präsident wolle seinen Erlaß nur für eine Übergangszeit in Kraft setzen – bis das Parlament sein Gesetz fertigbekommen hat.

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