■ Vom Nachttisch geräumt: Vom richtigen Leben
Ein Schlaganfall. Eine Nacht und einen halben Tag lang lag Stalin tot in seinem Zimmer. Niemand hatte gewagt, ungefragt einzutreten. Franklin D. Roosevelt „starb bei einem Urlaub in Warm Springs, leicht und schnell, inmitten einer Unterhaltung mit Freundinnen“. Alan Posener hat beider Leben in einer Parallelbiographie geschildert: Salonlöwe gegen Aparatschik, im Amoklauf gegen den Rest der Welt, oder leben und leben lassen. Stalin verbrachte sein Leben in saufenden, gegeneinander intrigierenden Männerrunden. Der Kreml ein tödlicher Stammtisch. Roosevelt dagegen ein womanizer, angewiesen auf die Zärtlichkeit weiblicher Gesellschaft. Seine Frau lebte meist getrennt von ihm mit anderen Frauen. Aristokratische Freiheiten, die sich heute kein Präsidentenpaar mehr herausnehmen könnte. Posener arbeitet präzise die unterschiedlichen Milieus, die konträren Lebensstile der beiden mächtigsten Männer der Jahrhundertmitte heraus. Stalins Mutter war noch als Leibeigene geboren worden, sein Vater war ein Schuster, der bei einer Wirtshausschlägerei ums Leben kam. Roosevelt entstammte dem reichen, von Edith Wharton beschriebenen New Yorker Patriziat. „Stalin kannte sich in der Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts aus; Roosevelt hat nie eine Zeile von Darwin, Hegel oder Marx gelesen... Stalin rebellierte gegen die geistige Enge des Tifliser Priesterseminars; Roosevelt zitierte bis zum Ende seines Lebens die Maximen Endicott Peabodys, Rektor des Elite-Internats Groton, wo Roosevelt ein unauffälliger, angepaßter Schüler war. Als Stalin illegale Zeitungen für die Ölarbeiter Bakus herausgab, geißelte Roosevelt als Chefredakteur des Harvard-Blattes The Crimson die mangelhafte Unterstützung der Fußballmannschaft durch die Studenten; als Stalin Banken expropriierte, arbeitete Roosevelt als Anwalt für eine Firma, zu deren Klienten Standard Oil und American Tobacco gehörten.“ Man spürt: Poseners Herz schlägt für den Rebellen. Die Entscheidung für den Sohn aus reichem Haus fällt ihm schwer. Das macht sein Buch so spannend. Ein Lob des Mittelmaßes von einem, der das Extreme liebte. Poseners Sinn für den Radikalismus Stalins ist hoch entwickelt, sein Sensorium dafür wurde in den Jahren seiner Zugehörigkeit zur maoistischen KPD wohl stark auf die Probe gestellt und danach extrem empfindlich. Der Leser profitiert von des Autors langer Lehrzeit. Das kleine Buch ist auch ein Essay zum Thema Reform und Revolution, ja zur antiken Frage nach dem richtigen Leben.
Alan Posener: „Stalin/Roosevelt“. Europäische Verlagsanstalt, 145 Seiten, gebunden, 26 DM.
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