Flugstromvergasung sprengte rot-grüne Koalition

■ Landkreis Northeim überholt Bremen im Müll-High-Tech: Die Weltpremiere findet woanders statt / Grüne strikt gegen das „Abenteuer“

Aus einem der ehrgeizigsten Ziele von Ralf Fücks wird nichts mehr. Inspiriert von seinem ehemaligen Staatsrat Uwe Lahl wollte der grüne Umweltsenator mit einer Bremer Weltpremiere in Sachen Müllbeseitigung überregionale Schlagzeilen machen. Die vor über einem Jahr dafür auserkorene Technologie der „Flugstromvergasung“ wird zwar noch als eine von fünf möglichen Optionen für die Nachfolgelösung der überalterten Bremer Müllverbrennungsanlage weiter geprüft (vgl. taz vom 27.7.), doch die erste Anlage dieser Art wird auf keinen Fall mehr in Bremen stehen. Die große Schlagzeile wird der niedersächsische Landkreis Northeim machen. Dort ist die Errichtung einer Flugstromvergasungs-Anlage bereits beschlossene Sache. Allerdings – auch das dürfte in Bremen interessieren –ist im Kreis Northeim die siebenjährige rot-grüne Koalition an dieser Entscheidung zerbrochen.

Bei der Flugstromvergasung wird der Müll nicht wie in einer MVA unter hohen Temperaturen verbrannt, sondern in einem komplizierten chemischen Verfahren aufbereitet. Endprodukte sind große Mengen einer im Straßenbau einsetzbaren Schlacke, ein brennbares Gas, das zur Strom- oder Wärmeerzeugung verwendet werden kann, und größere Wassermengen, aus denen ein sehr kleiner Rest hochgiftigen Sondermülls herausgefiltert werden muß. So jedenfalls funktioniert die Flugstromvergasung in der Theorie ihrer Befürworter. Eine komplette Testanlage existiert bislang nicht.

Am 15. Juli hatte der Northeimer Kreistag mit den Stimmen der neuen Großen Koalition von SPD und CDU gegen Grüne und FDP den Vertrag gebilligt, nach dem eine Tochter der „Energie-Aktiengesellschaft Mitteldeutschland“ (EAM) in Zusammenarbeit mit der auch von Fücks und Lahl einst präferierten Firma Noell eine Flugstromvergasungs-Anlage – in etwas kleinerer Dimension als in Bremen geplant – für rund 250 Millionen Mark bauen wird. Sie soll zunächst nur als „Versuchsanlage“ genehmigt werden. Damit umgeht der Landkreis ein langwieriges Planfeststellungsverfahren mit Bürgerbeteiligung. Baubeginn soll deshalb bereits im kommenden Sommer sein. „Anfang 1997 wird die Anlage in Betrieb gehen“, meint Markus Hubig, Geschäftsführer der EAM-Tochter.

In diesem Schnellverfahren sehen die Northeimer Grünen das erste große Manko des Projekts. Weder in dem Kreistagsbeschluß noch in den abgeschlossenen Verträgen ist nämlich eine Frist genannt, nach der der „Versuchsbetrieb“ in einen normalen – und dann auch normal zu genehmigenden – übergehen soll. Die langfristig angepeilte Kapazität von 100.000 Tonnen Müll pro Jahr soll dagegen bereits von Anfang an erreicht werden. Der Landkreis hat sich gegenüber der EAM sogar vertraglich verpflichtet, diese Müllmenge herbeizuschaffen.

Hier setzt die zweite grundsätzliche Kritik der Grünen an: Zur Zeit fallen nämlich im Landkreis Northeim nur 75.000 Tonnen Müll pro Jahr an. Durch den weiteren Fortschritt von Recycling und Müllvermeidung sollte diese Menge in den nächsten Jahren sogar noch deutlich kleiner werden, Schätzungen gehen von 50.000 Tonnen aus. „Damit werden wir vom Zukauf von Müll aus anderen Landkreisen gezwungen“, folgert Ursula Gerecht, grüne Fraktionssprecherin und vorerst noch stellvertretende Landrätin, „und die anderen Kreise werden diese Situation natürlich nutzen, um den Entsorgungspreis ordentlich zu drücken.“ Diese bisher noch unberücksichtigten Kosten der neuen Technik würden die BürgerInnen dann spätestens an ihren Müllgebühren zu spüren bekommen.

Der dritte Einwand der Northeimer Grünen in Sachen Flugstromvergasungs-Anlage richtet sich gegen eine weitere Premiere: Erstmals soll eine komplette Altdeponie durch eine Müllbeseitigungsanlage geschickt werden. Direkt neben dem geplanten Standort wird seit Anfang der 70er Jahre der Müll des Landkreises deponiert. Ursula Gerecht: „Wenn dieser gerade erst einigermaßen abgedichtete Berg jetzt wieder geöffnet und durch die Flugstromvergasungs-Anlage geschickt wird, nähern wir uns einer Sondermüllverbrennung. Denn damals hat es keine Eingangskontrolle auf der Deponie gegeben. Niemand kann wissen, welche Gifte dort lagern.“

Auch die von Bremens Ex-Umweltstaatsrat Lahl so hochgelobte Technik der Flugstromvergasung selber sehen die Northeimer Grünen äußerst kritisch. Nach einer Besichtigungs-Reise nach Freiberg in Sachsen und Burgau in Bayern, wo die beiden technischen Komponenten der projektierten Flugstromvergasungsanlage – Pyrolyse und Vergasung – unabhängig voneinander erprobt werden, urteilten die Grünen: „Was bei uns geplant ist, das ist keine Versuchsanlage, das ist ein Abenteuer.“ Ebenso wie der BUND in Bremen sehen sie in der weitgehenden Trennung und biologischen Restbehandlung des Mülls eine sinnvollere Alternative zur technisch sehr komplizierten und kaum erprobten Flugstromvergasung.

„Große Bedenken“ angesichts des millionenschweren Beschlusses hatten im Kreistag allerdings nicht nur die Grünen, sondern auch der Fraktionsvorsitzende der SPD, Bernd Münder. Die Northeimer Neuesten Nachrichten zitieren seine Begründung für die Zustimmung zum Vertrag mit der EAM so: „Wir sind gezwungen, unsere Rolle als kleines Rädchen in diesem volkswirtschaftlichen Wahnsinn zu spielen. Teure Scheinwerte werden teuer erzeugt, teuer verkauft, teuer eingesammelt und teuer entsorgt.“ Und Münders Fraktionskollege Otto Graeber legte direkt nach der Abstimmung sogar gleich sein Kreistagsmandat nieder. Er ist auch Bürgermeister der Stadt Moringen, auf dessen Gebiet die Flugstromvergasungs-Anlage gebaut werden soll.

Im Kreis Northeim ist die Debatte beendet, die in Bremen im November noch einmal richtig beginnen wird. Dann nämlich liegt das Gutachten des hannoverschen Ingenieurbüros Fichtner vor, das die fünf Alternativen für Bremens künftige Restmüll-Behandlung untersucht. Absehbar ist, daß sich Anhänger der klassischen Müllverbrennung bis hin zu Befürwortern reiner Kompostierung und Deponierung erbitterte Glaubenskriege liefern werden. Doch zumindest ein Motiv wird dann – Northeim sei Dank – fehlen: die Hoffnung des Umweltsenators, in Bremen mit einer technischen Weltpremiere Müllgeschichte schreiben zu können.

Dirk Asendorpf