: Mißtrauen, Terror und Apathie in der Cite Soleil
■ Im größten Slum der Hauptstadt ist die Hoffnung auf Aristide längst gewichen
Auf dem riesigen Areal, das sich hinter der letzten Reihe der Wellblechverschläge ausdehnt, sind im gleißenden Gegenlicht nur die Silhouetten der gebückten und kauernden Gestalten zu erkennen. Es sind Menschen, die dort im Freien, auf dem eingestampften Abfall, der an der tropischen Sonne dahinmodert, ihre Notdurft verrichten. Die stinkenden Abwässer fließen offen zwischen den Hütten hindurch. Wenigstens ist es Trockenzeit. Wie es hier in der Regenzeit erst aussieht, wenn das ganze Viertel überschwemmt ist, mag man sich gar nicht ausmalen. Cite Soleil ist das größte Slum von Port-au- Prince, der Hauptstadt Haitis, hier vegetieren die Ärmsten der Armen, es ist ein Leben, in dem es für Würde keinen Platz mehr zu geben scheint.
Viviane lebt in einem dieser armseligen Verschläge, die mehr Geräteschuppen als menschlichen Behausungen gleichen. Die 28jährige Frau teilt sich ihren kleinen Raum, in dem sie kocht, schläft und ißt, mit ihren fünf Kindern, das sechste ist schon unterwegs. Eigentlich wollte sie keine Kinder mehr, sagt sie, aber Gott habe es nun mal so gewollt. Fakt ist, daß sich die drei Väter ihrer Kinder alle dünngemacht haben und daß der Vater des noch Ungeborenen auch schon auf dem Absprung ist. So wird sie sich einen neuen Mann suchen, der für die Familie sorgt oder zu sorgen vorgibt und aller Voraussicht zur Vermehrung der Kinderschar beiträgt.
Fließendes Wasser gibt es nirgends in Cite Soleil, wo immerhin 200.000 Menschen wohnen, und so wimmelt es überall von Mädchen und Frauen, die Eimer auf ihrem Kopf balancierend zwischen Abfallbergen, Zuckerrohrverkäufern und knietiefen Straßenlöchern ihren Weg gehen. Umgerechnet einen Pfennig pro Liter kostet das Wasser aus dem Zisternenwagen der privaten Händler. Viviane versucht mit täglich 20 Litern für ihre Familie auszukommen. Manchmal kommt auch der Tankwagen der Salesianer. Die verteilen das Wasser umsonst. Miete bezahlt Viviane zehn Mark pro Monat, wenig und doch viel zuviel, wenn man wie die allermeisten hier im Viertel keine Arbeit hat. Ab und zu verdient sie eine lächerliche Summe mit dem Verkauf von Holzkohle. Für die Elektrizität aber, die hier ebenfalls als Privatgut gehandelt wird, reicht es seit drei Monaten schon nicht mehr. So hat ihr der Mann, der ihr die schwarze Leitung gelegt hat, den Stöpsel herausgezogen. Nun liegt auch das kleine Radio brach in der Ecke. Was draußen in der Stadt, auf der Insel, in der Welt geschieht, interessiert Viviane ohnehin nicht mehr. Daß in Haiti über eine US- Intervention spekuliert wird, weiß sie gar nicht. Aber wenn man sich politisch einmischt, sagt sie, habe man ohnehin bloß Ärger.
Davon können andere ein Lied singen. Cite Soleil ist eine Hochburg des 1991 gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide. Das erst 1959 gegründete Viertel, das früher Cite Simone hieß, benannt nach der Gattin des Diktators Francois Duvalier alias „Papa Doc“, gab sich den neuen Namen aus Solidarität mit dem Kirchensender „Radio Soleil“, der bei der Ablösung der Duvalier-Diktatur 1986 eine entscheidende Rolle spielte. Hier haben sich Tausende in der „Tit Legliz“, der Basiskirche, engagiert, und hier hat der Armenpriester und Befreiungstheologe bei den Wahlen im Dezember 1990 Spitzenresultate erzielt. Und deshalb ist Cite Soleil heute auch eine Hochburg des Terrors.
Drei „Kasernen“ gibt es in Cite Soleil, gemeint sind die Stützpunkte der „Attaches“, bewaffnete Zivilisten, die für die Militärs die Drecksarbeit erledigen. Es vergeht keine Woche, ohne daß Bewohner der Siedlung, meistens Basisaktivisten, erschossen werden oder einfach „verschwinden“.
„Nein, zu uns kommen die mit den Schußverletzungen nie“, sagt eine Mitarbeiterin des einzigen Krankenhauses von Cite Soleil, die wir sicherheitshalber Alice nennen wollen, „die befürchten, daß die Attaches sie hierher verfolgen.“ Bis vor zwei Monaten, versichert sie, habe man auf einer Straße, die nahe am Viertel vorbeiführt, täglich zwei bis drei Leichen gefunden, doch in den letzten Wochen habe sich die Situation deutlich verbessert. Aber die Leute haben Angst. Cite Soleil hat das kurze demokratische Intermezzo des Präsidenten Aristide am teuersten bezahlt. Natürlich hat sich in den sieben Monaten seiner Amtszeit für die Leute kaum etwas geändert. Aber sie hatten plötzlich eine riesige Hoffnung. „Es ist eben ein Unterschied“, sagt Alice, „ob jemand unheilbar krank ist, oder ob er eine Aussicht auf Genesung hat.“ Jetzt sei das Viertel wieder in die Resignation und Apathie verfallen.
Ein gutes Dutzend politischer Gruppierungen und basiskirchlicher Initiativen arbeitet zwar weiter in Cite Soleil. Doch fehlt der Schwung, weil die alte Hoffnung dahin ist. Man arbeitet quasi im Untergrund und weitgehend isoliert. Nachdem das Episkopat, das eben doch Teil der alten Elite ist und den Generälen näher steht als den Priestern der eigenen Kirche, das einst engagierte „Radio Soleil“ geschlossen hat, ist jetzt „Radio Soleil Leve“ (die aufgegangene Sonne) im Äther, ein Piratensender, der unter klandestinen Bedingungen sendet und aufgrund seiner miserablen technischen Ausstattung nicht viel mehr als ein kaum gehörter Schrei des Protestes ist.
„Mit der Hoffnung ist damals auch die Solidarität gewachsen“, sagt Robert, ein Aktivist der „Tit Legliz“, „mit der Hoffnungslosigkeit schwindet sie nun wieder dahin.“ Das Gesetz des Ellbogens setzt sich durch, Mißtrauen greift um sich. Immerhin sind einst engagierte Mitglieder von Basisorganisationen zur FRAPH übergelaufen, der Partei der Militärs und Attaches. Manchmal weiß Robert selbst nicht mehr, woher er die Kraft nehmen soll, nun wieder fast von vorne anzufangen. Aber wenn selbst er aufgibt, wie soll es denn überhaupt noch weitergehen? Vor vier Jahren, mitten im Wahlkampf für Aristide, ist er aus moralischer und politischer Überzeugung nach Cite Soleil umgezogen. Vor zwei Monaten hat er das Elendsviertel wieder verlassen. Sein Schwager und dessen Familie aus dritter Ehe, bei der er Unterschlupf gefunden hatte, wollten kein Risiko mehr eingehen. „Dein Kampf ist verloren“, hätten sie ihm gesagt, berichtet Robert, „zieh uns nicht ins Unglück mit.“
Der Salesianer-Pater Wim, ein Holländer, der seit 25 Jahren in Haiti arbeitet, warnt vor vorschnellem Pessimismus. Die Haitianer hätten in ihrem Leiden eine unendliche Geduld, meint er, „sie reißen sich zusammen, beherrschen sich – und dann, wenn sie irgendwo wieder Hoffnung schöpfen, explodieren sie“. Wim weiß, daß bei diesen Explosionen viel Gewalt freigesetzt wird. 1986, nach der Flucht Jean-Claude Duvaliers alias „Baby Doc“ ins französische Exil, versteckte der Pater, schon damals auf Seiten der „Tit Legliz“, der engagierten Kirche der Armen, „Tontons Macoutes“, Schergen der Diktatur, um sie der Lynchjustiz des Volkes zu entziehen. Angesichts dessen, was in den drei Jahren seit dem Putsch alles geschehen ist, würde es an ein Wunder grenzen, wenn ein politischer Wechsel, der Rücktritt der herrschenden Militärclique und die Rückkehr Aristides, ohne Racheaktionen vonstatten ginge. Thomas Schmid, Port-au-Prince
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