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Die Versöhnung muß von Polen ausgehen

Wenn jeder Kredit, jeder Schüleraustausch, jede politische Handlung zwischen Polen und Deutschland von den Deutschen dem Schlagwort von der „Versöhnung“ untergeordnet wird, wird diese zum Versöhnungskitsch. Eine Meinung  ■ von Klaus Bachmann

Es war einmal eine Handvoll Berliner Skins, die sich auf die Socken machten, „Polacken aufzumischen“. Sie kamen bis Posen, dann gab ihre Rostlaube den Geist auf, und sie fanden sich hilflos inmitten einer riesigen Trabantenstadt aus sozialistischen Wohnbunkern, bewohnt von Menschen, deren Sympathie sie aufgrund ihrer Absichten und ihrer spärlichen Haartracht kaum sicher sein durften. Und so bemächtigte sich ihrer eine gewisse Panik, welche sie dazu trieb, einige Altersgenossen um Hilfe anzugehen. Die Geschichte endete damit, daß sie bei verschiedenen polnischen Jugendlichen und deren Eltern in engen Blockwohnungen die Nacht verbrachten, währenddessen deren Freunde das Fahrzeug zu einem Freund brachten, der es wieder instand setzte. Am nächsten Morgen konnten sich die Skins so etwas beschämt und sehr erleichtert auf den Rückweg in Richtung Berlin machen.

Die Geschichte klingt etwas kitschig, trotzdem ist sie symptomatisch für die deutsch-polnischen Beziehungen nach vier Jahren Einheit in Deutschland und Demokratie in Polen. Heute steht fest: Der wichtigste Beitrag zur beiderseitigen Vertrauensbildung war nicht der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag oder die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, sondern die Abschaffung der Visapflicht zwischen beiden Ländern. Die Befürchtungen waren groß, die Schlagwörter reichten von „Invasion der polnischen Kleinhändler“ bis zu „Explosion von Prostitution und Autodiebstahl“. Statt dessen sind Millionen von Deutschen gen Osten und Millionen von Polen nach Westen gefahren und haben dabei festgestellt, daß längst nicht alle Deutschen revanchistische Ungeheuer, alte und neue Nazis oder gefühllose, ordnungsversessene Beamtenseelen sind. Abertausende deutscher Besucher assoziieren statt dessen polnische Wirtschaft mit billigen Märkten und Läden im grenznahen Raum, deren Personal schüchtern lächelnd seine Schulbuchkenntnisse in Deutsch zusammensucht. Die meisten deutschen und polnischen Gemeinden entlang der Grenze arbeiten inzwischen zusammen, an der unteren Oder gibt es grenzüberschreitende Feuerwehreinsätze und eine deutsch-polnische Kläranlage, weiter im Landesinnern Schul- und Städtepartnerschaften, deutsch- polnische Klubs, Kulturinitiativen und Tausende privater Kontakte.

Und selbst wenn ehemalige Vertriebene in akklimatisierten Bussen über die Grenze kommen, folgen ihnen keine bebrillten Männer in Devisenjeans mit diskreten Walkie-Talkies mehr, sondern höchstens junge Fremdenführer, für die es selbstverständlich geworden ist, darauf hinzuweisen, daß manche Hydranten in Stettin noch eine deutsche Aufschrift tragen oder die Krakauer Stadtchronik bis ins 14. Jahrhundert hinein deutsch verfaßt war. Der Ton macht die Musik und die kleinen Gesten die Atmosphäre.

Die deutsch-polnische Verständigung war von Anfang an eine Sache, die sich Minderheiten zur Aufgabe machten: Enthusiasten, die unter Umgehung der kommunistischen Behörden einen eigenen Studentenaustausch organisierten und sich für politische Gefangene einsetzten, auch wenn die nicht in das eigene Weltbild paßten. Doch richtig loslegen konnten auch Basisgruppen erst, als die Grenze offen war.

Selbst für das demokratische Polen galt die Bundesrepublik bis in die neunziger Jahre als unberechenbar und die Einheit als Bedrohung. Erst Polens liberaler Premier Bielecki machte Deutschland zum strategischen Partner für Polens Marsch in die EG, und sein Außenminister Skubiszewski erfand die „deutsch-polnische Interessengemeinschaft“. Leider jedoch vergaß er, diese Gemeinschaft zu definieren, und so entstand ein neues Schlagwort, das – wie zuvor das der „Versöhnung“ – lediglich eine Form, nicht aber den Inhalt bezeichnete: hohle Gesten, die mit viel bittersüßer Begleitmusik Meinungsunterschiede zukleistern sollen. Mit einem Wort: Versöhnungskitsch.

Versöhnungskitsch ist, wenn der Landtagspräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Rainer Prachtl, eine öffentlich angekündigte Bus- bzw. Bußfahrt zum Vernichtungslager Auschwitz organisiert, um dort – laut Presserklärung – „einen Teil der Lagerstraße von Birkenau freizulegen sowie Häftlingskoffer und andere Ausstellungsgegenstände zu reinigen“. Der Presserklärung zufolge hat sich Prachtl zu diesem „einmaligen“ Besuch nach dem Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge entschlossen. Es ist anzunehmen, daß es nach den präsidialen Gartenarbeiten in Polen zu keinen weiteren Anschlägen in Deutschland kommen wird.

Versöhnungskitsch ist kein Privileg von Auschwitzbesuchern. Dazu gehört auch das Gerede von der deutschen Minderheit als einer Brücke zwischen Polen und Deutschen, mit der zugedeckt wird, daß sich Deutsche in Deutschland mit Polen in Polen eigentlich ohne die Deutschen in Polen viel besser verstehen. Die nämlich sind renitent, manchmal antipolnisch und deutschnational, oder sie verlangen einfach all die Rechte, die ihnen als Minderheit zustehen und die ihnen von Deutschlands Linken und Liberalen auch jederzeit zugestanden würden, wären sie nicht eben renitent, deutschnational und manchmal antipolnisch. Tatsächlich ist die deutsche Minderheit in Schlesien ein deutsch- polnischer Lackmustest, der allerdings nie angewendet wird.

Versöhnungskitsch ist, wenn jede normale politische Handlung zwischen zwei Nachbarstaaten nicht mehr als normale Handlung, sondern als Versöhnung gilt. Dies gilt für den Schüleraustausch, bei dem sich dann Menschen versöhnen, die nie miteinander verfeindet waren, ebenso wie für deutsche Kredite, Investitionen, Kranzniederlegungen, Begegnungszentren, renovierte Adelspaläste und Antologien. Sogar eine von Polens größten Stiftungen, mit deutschem Geld gegründet, heißt „Versöhnung“. Sie unterstützt ehemalige Zwangsarbeiter, von denen sich viele gar nicht versöhnen wollen. Gerade Kriegsveteranen gelten zu Unrecht als besonders versöhnungssüchtig. An Beispielen hierfür fehlt es nicht: Tausende von ehemaligen Zwangsarbeitern sind im polnischen, extrem antisemitischen und antideutschen „Kriegsopferverein“ eines ehemaligen kommunistischen Geheimagenten organisiert. Zu einem deutsch-polnischen Veteranentreffen bei Danzig im letzten Jahr kam von polnischer Seite sage und schreibe ein einziger Ex-Kombattant. Als Roman Herzog seine Rede in Warschau hielt, bekam er von den Veteranen zwar den meisten Beifall. Aber nur von denen, die nicht zu Hause geblieben sind. Von den anderen sind immer noch viele der Ansicht, Herzog hätte nicht eingeladen werden dürfen. Es gibt da einen kleinen Satz, den Ex-Präsident Richard von Weizsäcker am Rande seines Warschau-Besuchs vor zwei Jahren fallenließ: Versöhnen könnten sich nur die Polen mit den Deutschen, nicht umgekehrt. Das wäre ja sonst so, als fordere der Täter das Opfer zur Versöhnung auf. Deutsche Politiker hindert das nicht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Versöhnung im Munde zu führen und diesen seines Inhalts zu entleeren. Plötzlich versöhnt sich jeder mit jedem: Polens letzter kommunistischer Parteichef Mieczyslaw Rakowski galt seit jeher als so großer Deutschenfreund, daß er weder nach seiner demokratischen Legitimität noch nach seinem Verhältnis zur deutschen Minderheit gefragt wurde. Nun darf der ehemalige Sekretär des Bundes der Vertriebenen, Hartmut Koschik, als CSU-Abgeordneter in seine Fußstapfen treten und sich mit den Polen versöhnen, gegen deren Westgrenze er noch Anfang der neunziger Jahre die deutsche Minderheit in Schlesien mobilisierte. Selbst Vertriebenenfunktionäre, die sich nicht wie Koschik selbst gewendet haben, reden inzwischen von Versöhnung, vorausgesetzt, sie bestimmen die Bedingungen, zu denen versöhnt wird.

Probleme zwischen Deutschen und Polen werden nicht dadurch gelöst, daß sie mit Kitsch zugedeckt werden, sondern dadurch, daß sie ausdiskutiert werden. Die Frage nach den gegenseitigen Vorurteilen gehört inzwischen zum Standardrepertoire ahnungsloser Journalisten und smalltalkender Politiker. Keiner von ihnen aber stellt die Frage, welche Vorurteile man denn abzubauen gedenkt und wer sie aufgebaut hat. Denn wenn's erst ins Detail geht, zeigen sich – hinter der vorgeblichen Verständigungsbereitschaft – die tatsächlichen Positionen. Allzu viele deutsche Vorurteile gegenüber Polen halten die Deutschen nämlich für berechtigt und keineswegs für Vorurteile. Und auch für viele Polen „ist es einfach so“, wie es seit Jahrzehnten tradiert wurde. Das gilt besonders für ihr meist rosarotes Bild der polnischen Zwischenkriegsrepublik, die für ihre Minderheiten und Nachbarn ein schlichter Alptraum aus Verfolgungen, Kämpfen, sozialen Konflikten und außenpolitischen Abenteuern darstellt.

Die deutschen Klischees über die Franzosen sind eher liebenswert und wenig schädlich – nicht so im Fall Polen. Bei der deutschen Rechten werden sie bestimmt von „Automafia, Schwarzarbeit und polnischer Wirtschaft“, auf der Linken vom polnischen Antisemitismus. Das Fatale daran ist gar nicht, daß damit deutscherseits eine Schuldprojektion stattfindet, sondern daß sie völlig unreflektiert dargeboten wird. Richtig ist, daß etwa 30 bis 40 Prozent der polnischen Bevölkerung antisemitische Vorurteile hegen, die teilweise geradezu mittelalterlich anmuten. Richtig ist aber auch, daß in Deutschland und nicht in Polen KZ-Gedenkstätten und Ausländerwohnheime niedergebrannt werden. Richtig ist, daß Antisemitismus zum industriellen Massenmord an Juden geführt hat. Aber das war der deutsche und nicht der polnische Antisemitismus.

Solche Themen sind für Politiker ungeeignet, aber sie sollten ein gefundenes Fressen für die Diskussionen der Intellektuellen beider Staaten sein. Statt dessen jedoch überzeugen sich germanophile Polen und polenfreundliche Deutsche gegenseitig davon, daß sie einander mögen, meist unter peinlicher Ausklammerung kontroverser Themen. Versöhnungskitsch gehobener Art. Wer repräsentiert Polen im deutschen Feuilleton? Der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski, der Ex-Dissident Adam Michnik. Von wem muß jeder Polenreisende ein Interview nach Hause bringen? Von Jacek Kuron (ebenfalls ehemals führender Oppositioneller) und Ex-Regierungschef Tadeusz Mazowiecki. Alle zusammen repräsentieren, nach den letzten Wahlen zu schließen, rund 10 Prozent der Bevölkerung und befinden sich zur Zeit gerade (wieder) in der Opposition. Von Intellektuellen, die die Ansichten der restlichen 90 Prozent, darunter der derzeitigen Regierung, repräsentieren, hat der deutsche Feuilletonleser noch nichts gehört.

Die Kontroversen, denen Politiker und Intellektuelle so eifrig aus dem Weg gehen, brechen deshalb um so heftiger aus. Die Worthülse von der Versöhnung verdeckt nur, daß die Meinungen des einen über den anderen sich nicht verändern. Ja, Vor- und Pauschalurteile, Mißverständnisse und Rivalitäten werden sogar größer, weil es an Gelegenheiten fehlt, diese mit der Sichtweise der anderen Seite zu konfrontieren. Das ist der Fluch der guten Tat, die mit der Zeit zur Gewohnheit wurde und schließlich zum leeren Bekenntnis erstarrte.

Erst Lech Walesa und Bundespräsident Herzog haben das deutsch-polnische Schweigen durchbrochen.

Da zum schrägen Polenbild der deutschen Linken auch ein Dämon namens Walesa, selbstverständlich Antisemit und Diktator in spe, gehört, sei daran erinnert, daß er es war, der vor zwei Jahren in Tel Aviv für das polnisch-jüdische Verhältnis ähnliche Worte fand wie nun Roman Herzog für das deutsch-polnische. Bleibt zu hoffen, daß das Konkrete an Walesas und Herzogs Worten nun auch die Intellektuellen und Publizisten dazu anstachelt, konkret zu werden.

Die deutsch-polnischen Beziehungen vertragen auch einen Streit unter Nachbarn. Vorausgesetzt, er wird ehrlich ausgetragen.

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