Mit Badelatschen und Wolldecke in die Alpen

■ Den Berlinern eilt wie allen Menschen aus dem Flachland der Ruf voraus, in den Bergen unvorsichtig zu sein / Der Deutsche Alpenverein hält die meisten Unfälle für vermeidbar

Der Hüttenwirt im Ötztal in Österreich faßte sich an den Kopf, als er die Berlinerin in Shorts und Turnschuhen vom Berg herunterkommen sah. Die ortsunkundige Frau war allein über genau jenen schneebedeckten Gletscher gekraxelt, wo vor kurzem ein Einheimischer zu Tode gekommen war.

Im Gegensatz zu der Berlinerin hatte sich der junge Mann gut in der Gegend ausgekannt. Aber auch er war allein gewandert, und so hatte ihn keiner schreien gehört, als er in die Gletscherspalte rutschte. Sein Glück im Unglück war, daß er nicht in die endlose Tiefe des ewigen Eises stürzte, sondern auf einem 12 Meter von der Oberkante entfernten Vorsprung hängengeblieben war. Dort kämpfte er die ganze Nacht um sein Leben und versuchte bis zur Erschöpfung, mit dem Eispickel Stufen in den Gletscher zu schlagen. Als er am folgenden Tag endlich von den Suchtrupps gefunden wurde, lebte er noch. Aber sein Körper war von der langen Zeit im Eis so unterkühlt, daß das Blut nur noch im Rumpf zirkulierte. Als er aus der Spalte gezogen wurde, erlag er sofort einem Bergungstod: Das kalte Blut in den Extremitäten war durch die Bewegung des Körpers aktiviert worden und hatte sich schockartig mit dem warmen Rumpfblut vermischt.

Der Fall beweist: Auch erfahrene Alpinisten sind vor einem Unfall in den Bergen nicht gefeit. Aber wie allen Flachländlern, eilt den Preußen in der Bergwelt das Vorurteil voraus, sie würden das Schicksal geradezu herausfordern. Die 9.000 Berliner Mitglieder des Deutschen Alpenvereins sind damit weniger gemeint als die vielen Spontan-Bergsteiger, vor allem aus dem Osten. „Nach der Wende war es ein offenes Geheimnis, daß die Menschen aus den neuen Bundesländern die Unfallstatistik in den Bergen ordentlich nach oben gedrückt haben“, weiß der Geschäftsführer der Berliner Sektion des Alpenvereins, Schröder. Der Nachholbedarf und die mangelnde Kenntnis der Ostler habe zu vielen Verletzungen und etlichen Todesfällen geführt.

Eine genaue Statistik, wie viele Bundesbürger jährlich in den Bergen umkommen, gibt es nicht. Die einzelnen Sektionen des Alpenvereins führen nur Listen für ihre Mitglieder, und auch diese stimmen nur ungefähr, weil längst nicht alle Vorfälle gemeldet werden. Für 1993 ist dem Berliner Alpenverein der Tod nur eines Mitglieds bekannt. Der Mann wurde unter einem Schneebrett begraben, das ausgerechnet vom Bergführer ausgelöst worden war. 1992 kamen dagegen mindestens vier Berliner hoch droben um. Einmal erwischte es Mutter, Vater und Kind. Die Familie war von Eisschlag getroffen auf einen Gletscher geworfen wurden. Ein anderes Mal traf es einen jungen Ostberliner. Den Studenten hatte der Ehrgeiz auf den Pico Colon in Kolumbien getrieben. Als das Wetter umschlug, waren seine Begleiter, die ebenso unerfahrene Neulinge waren wie er, umgekehrt. Nur mit Turnschuhen, einer Wolldecke und einem Zelt ausgerüstet, zog der Mann allein weiter. Wochen später wurde sein Zelt in 5.000 Meter Höhe gefunden. Nach erneuter Suche konnte endlich auch die Leiche geborgen werden.

„Die meisten Bergunfälle sind vermeidbar“, stellt der Alpenverein in einem seiner Unfallberichte fest. Häufigster Grund seien Mangel an alpiner Erfahrung, „also Selbstüberschätzung“, unzureichende Sicherung, mangelhafte Ausrüstung, Leichtsinn oder Unkenntnis. Die häufig als objektiv bezeichneten Unfallursachen wie Lawinen, Stein- und Eisschlag, Spalten und Wettersturz entpuppten sich bei genauerer Betrachtung nicht selten als selbstverschuldete Unfallursachen. Die meisten Unfälle ereigneten sich beim Wandern auf Wegen, beim Begehen von Klettersteigen und beim Klettern in Fels und Eis ab dem zweiten Schwierigkeitsgrad. Unter „ferner liefen“ rangiert dagegen das Unfallrisiko beim Gleitschirm- oder Drachenfliegen.

Was das schlechte Image der neuen Bundesbürger in den Alpen angeht, so brauchen sich diese darüber nicht mehr groß den Kopf zu zerbrechen, denn das Bild ist im Begriff zu verblassen. „Das wird von Jahr zu Jahr besser“, weiß der Geschäftsführer der Berliner Sektion des Alpenvereins und hat dafür auch eine Erklärung parat: „Die Lernbereitschaft und die Ausrüstung sind besser geworden.“ Auf den Wanderwegen rund um die Hütten sehe man zwar immer noch so Erstaunliches wie Leute in Badelatschen. Aber so was sei inzwischen doch eher die Ausnahme. Plutonia Plarre