: Unfertige Extreme, frustrierte Spitzen
Gedichte aus der leeren, einsamen Welt Südamerikas, ohne Dschungelmagie und ohne Lokalkolorit – von dem argentinischen Dichter Roberto Juarroz liegt jetzt erstmals eine Auswahl seiner „Vertikalen Poesie“ vor ■ Von Joachim Sartorius
Unsinnig viele Menschen schreiben Gedichte, die wenigsten mit einer Poetik im Kopf, die meisten einfach drauflos. So sind viele Gedichte schlecht, erschöpfen sich in ein, zwei selbstverliebten Bildern, einem gelungenen Zeilenbruch. Die Seite wird, kaum gelesen, wieder weiß. Der amerikanische Literaturkritiker Schuyler Jackson hatte 1939 in Time einen vernichtenden Aufsatz über die Poesie jener Jahre veröffentlicht und drei „Klassen von Dichtern“ unterschieden: „poets, poetasters and poeticules“. Den Titel eines Dichters sprach er nur Rilke zu, der bereits 1926 gestorben war, und Laura Riding. Heute ist Schuyler Jackson vergessen, allenfalls noch als Liebhaber der Riding in der unmittelbaren Nachfolge Robert Graves' eine Fußnote in den Biographien der Epoche wert, doch seine Einteilung hat ihre Nützlichkeit bewahrt. Laura Riding übrigens gab im gleichen Jahr, 1939, die Dichtung auf – als unangemessenes Mittel, die letzte Wahrheit über die Dinge zu sagen.
Es gibt heute noch Dichter, man denke an Octavio Paz oder Yves Bonnefoy, die an der Poesie als Erkenntnisinstrument und an der poetischen Sprache als (vielleicht einzigem?) Mittel, Transzendenz zu erfahren, festhalten. Zu diesen gehört auch der bei uns immer noch unbekannte Argentinier Roberto Juarroz. Im vergangenen Jahr war er der Star von „Poetry International“ in Rotterdam, des größten Lyrikfestivals der Welt. Man raunte in den Sälen des „Doelen“, hier sei endlich wieder ein Dichter zu entdecken. So war er auch Mittelpunkt des alljährlichen Übersetzerprojekts; eine ganze Reihe teilnehmender Poetaster versuchte sich darin, ein Gedicht von Roberto Juarroz in ihre Muttersprachen zu bringen.
Bereits 1964 hatte ihm kein Geringerer als sein Landsmann Julio Cortázar geschrieben, wie sehr ihn die „Zweite Vertikale Poesie“ fasziniert habe: „Ihre Gedichte gehören für mich zum Höchsten und Tiefsten (das eine wegen des anderen natürlich), das in diesen Jahren in der spanischen Sprache geschrieben wurde. Ich hatte stets den Eindruck, daß Sie es schaffen, dasjenige, was Sie suchen, an das Licht zu bringen – in einer Sichtweise, die völlig frei ist von Unreinheiten (wörtlichen, dialektischen, historischen) und die in der Morgenröte unserer Welt die vorsokratischen Poeten hatten.“ Das ist hoch gegriffen. Lesen wir aber nur einige wenige Gedichte von Roberto Juarroz, so stimmt dieses Urteil in dem Punkt, daß Philosophieren und Dichten (den Worten eine verdichtete Gestalt geben) für Juarroz eins sind und er der Poesie wie selbstverständlich die Kraft zuspricht, sich das Dasein insgesamt anzueignen. Dennoch verbinde ich diese Gedichte weniger mit den Vorsokratikern als mit einem Lebensgefühl, das wir in den Schriften seines großen Fast-Landsmanns Juan Carlos Onetti finden: die leere, einsame Welt Südamerikas, ohne Dschungelmagie, ohne Lokalkolorit, erfundene Räume von Seelen, die sich auf Ereignisse einlassen müssen, ob sie wollen oder nicht, Blickwechsel voller Trauer, ohne ein Gran Wehleidigkeit, stattdessen philosophischer, schlafwandlerischer Gleichmut – und das von diesem Gleichmut Erblickte vielleicht wahrer als das wirkliche Leben.
Wahr ist, daß die Welt
nicht mehr als eine Menge
unfertiger Extreme ist,
frustrierte Spitzen
im skandalösen und
vorgegaukelten Raum
der Gesten, die nicht sind.
Und der Tod ist nichts anderes als
die Fülle dieses Raums,
die Fusion dieser Gesten.
Wer ist dieser Roberto Juarroz? Geboren 1925 in Coronel Dorrego bei Buenos Aires, studierte er nach dem Schulabschluß Bibliothekswissenschaft und Informatik in Buenos Aires und Paris und wurde später Professor an der Universität Buenos Aires. Von 1958 bis 1965 gab er die Zeitschrift Poesia=Poesia heraus. Seit Mitte der fünfziger Jahre schreibt er an einem einzigen lyrischen Großprojekt, der „Vertikalen Poesie“, die nun in dreizehn gleichlautenden Gedichtbänden (1958 bis 1993) vorliegt. Er selbst bezeichnte einmal die Poesie „als Suche oder Obsession oder Pilgerschaft (s)eines Schicksals durch die Sprache“. Während für Europäer der Terminus „vertikal“ sich mit einer Aufwärtsbewegung verbindet, ist der Begriff im spanischamerikanischen Raum weniger abstrakt und diffus-metaphorisch. Juarroz versteht darunter eine fallende Linie hin zum Grund der Sprache. So finden sich auch selten Bilder in dieser Lyrik; abstrakte Worte überwiegen: Raum, Welt, Leben, Abwesenheit, Leere. Juarroz arbeitet mit Widersprüchen: „Uns schmerzt die intimste Gestalt der Zeit: / das Geheimnis nicht zu lieben, was wir lieben.“ Der Einfluß des Existentialismus, mehr noch des Surrealismus, der in Lateinamerika immer stark war, ist hier zu spüren. Juarroz kannte Breton, widmete Eluard ein Gedicht. Je mehr wir in seine poetische Welt eindringen, um so klarer zeichnet sich auch eine lateinamerikanische Ahnenreihe ab – César Vallejo, Vicente Huidobro, Octavio Paz –, werden aber auch die Querverbindungen deutlich zu René Char, Jean Tardieu, Jorge Guillén und dem unvermeidlichen Wallace Stevens, der sich mehr und mehr als Ahnherr der Poesie unserer Zeit entpuppt. Bei Stevens gehen Atem, Melodie, Bild und philosophischer Gehalt eine unauflösliche Verbindung im Gedicht ein. Oft kann der übersetzer nur eine, im Glücksfall zwei Ebenen „herüberbringen“. Es muß ähnlich schwierig und frustrierend sein, Roberto Juarroz zu übersetzen.
Tobias Burghardt, der seit einigen Jahren für eine genauere Wahrnehmung der argentinischen Poesie eintritt (zuletzt mit einem „Dossier“ in der Berliner Lyrikzeitschrift Park), hat sich auf äußerst honorable Weise aus der Affäre gezogen, auch wenn man bedauert, daß diese erste Werkauswahl nicht zweisprachig ist und so die Möglichkeit der Vergewisserung beim spanischen Original entfällt. Es geht um einige wenige grammatikalische Konstruktionen, um einzelne Worte (z.B. das im Deutschen unübliche „inaugurieren“), doch sind dies kleinliche Mäkeleien angesichts einer im ganzen imponierenden Übersetzungsleistung, die uns die radikal artifiziellen Gebilde von Roberto Juarroz zu entdecken hilft. Wer, wie er, die Abstraktion und das Paradox zum Schreibprinzip erhebt, setzt sich leicht der Gefahr der Beliebigkeit aus. Der Grat zwischen hohem Kunst- und Reflexionsanspruch und anämischem Abstrahieren ist sehr schmal. Mit dem Willen zur Selbsterkenntnis, der Rückbesinnung auf die noch nicht von Technologien zugedeckte Natur und der Fähigkeit zur Verdichtung realer Momente („Die Stille fällt aus den Bäumen / wie weiße Früchte, / gereift unter der Haut eines anderen Lichts“) gelingt ihm immer wieder ein Abbild der eigentlich unübersetzbaren Wirklichkeit unseres Lebens. Sein monumentales Poesieprojekt zielt dabei weniger auf eine Ethik als auf eine Phänomenologie, die herkömmliche Ordnungen und Abgrenzungen bezweifelt. Im Kern geht es um Sinn und Möglichkeiten der Sprache für den Menschen im Austausch mit der Welt. In diesem Sinn sind alle Gedichte von Roberto Juarroz poetologische Gedichte. Er setzt Poesie und Gedanke gleich; beide sind dem Tod „am meisten entgegengesetzt“, können nicht mit ihm paktieren, sind „woanders“. Wenn sich der Gedanke mit der Poesie verbindet, öffnet sich das Wort einer neuen Dimension. Das hatte wohl Octavio Paz im Sinn, als er zu Juarroz' Lyrik schrieb: „Jedes Gedicht ist eine überraschende Kristallisation des Wortes: Sprache, reduziert auf einen Tropfen Licht.“
Roberto Juarroz: „Vertikale Poesie (1958-1993)“. Aus dem Spanischen von Tobias Burghardt. Mit einem Vorwort von Julio Cortázar. Edition Delta, Stuttgart 1993
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