: Flaschendrehen mit Pfand
Die Hitze, die Hitze: Ostberlins ehemals einziger Getränkehersteller „Spreequell“ arbeitet bis Ende August rund um die Uhr / 32.000 Flaschen Mineralwasser werden pro Stunde abgefüllt / Brunnen bis in fünfzig Meter Tiefe ■ Von Barbara Bollwahn
Flaschen, Flaschen und nochmals Flaschen. Soweit das Auge blickt, schieben sich Fließbänder mit ihrer klirrenden Ladung durch die große Produktionshalle. Gabelstapler heben Leergutkisten auf das Fließband. Eine Palette nach der andern wird seitlich gedreht. Zwei Greifarme packen die obere Kistenreihe und setzen diese auf das Band, das wie ein schepperndes Karussel seine Runden durch die Halle dreht.
In dem Flaschenlabyrinth in Weißensee gehören acht Arbeiter zu einer Schicht. Auch wenn das menschliche Auge registriert, wenn sich grüne Flaschen unter weiße geschmuggelt haben, müssen sie noch längst nicht selbst Hand anlegen. Weiße Flaschen gehören in braune Kisten, grüne in grüne. Das weiß auch das Sensorauge über dem Fließband. Waren achtlose Käufer oder farbenblinde Einsortierer im Supermarkt am Werk, treten die Farbsensoren in Aktion. Erst wenn das Sensorauge zugeschlagen hat, wird die Kiste mit der falschen Farbnuance auf ein Nebenband geworfen und aussortiert – per Hand.
Dann übernimmt wieder die Technik das Regime. Sogenannte Tulpen saugen die Flaschen aus den Kästen, die dann in Einzelreihen in Richtung Entdeckelungsmaschine tänzeln, von wo aus die kopflosen Körper in die Waschanlage verfrachtet werden. Die heiße Laugenlösung macht den Etiketten den Garaus. Am hinteren Teil türmt sich ein klebriger Haufen mit Aussicht auf ein wiederverwertetes Leben. Nach einer elektronischen Untersuchung auf Risse und Schmutz müssen die Flaschen noch einer „Gesichtskontrolle“ standhalten. Ein letzter, menschlicher Blick hinter einem Lichtfenster entscheidet über eine volle oder leere Zukunft.
Die Farben Blau und Weiß geben den Ton in den Produktionshallen an. Wie das Logo der Firma, die 1969 gegründet wurde und zu DDR-Zeiten über eine Million Hektoliter jährlich produzierte, sind Gänge, Wände und Geländer weiß und blau gestrichen. Auch die Arbeiter tragen blaue Latzhosen und weiße T-Shirts. Detlef Höynck ist einer von 35 Aushilfen, die „Spreequell“ angeheuert hat, um die ausgedursteten Kehlen der Stadt zu füllen. Obwohl seit einer Woche durchgearbeitet wird und pro Stunde 32.000 Flaschen Mineralwasser produziert werden, erreichen die 700.000 Hektoliter im Jahr nicht den konkurrenzlosen DDR-Rekordumsatz.
Der 35jährige Höynck arbeitet zwar erst seit kurzer Zeit in Weißensee, aber er kennt sich aus im Getränke-Milieu. Der Hellersdorfer ist gelernter Brauer-Ost. Nachdem Engelhardt-Bier in Stralau der Hand zugedreht wurde und er bei der Schultheiss-Brauerei in Kreuzberg bis zu deren Schließung im Juli gearbeitet hat, ist er froh, einen neuen Arbeitgeber – wenn auch nur vorübergehend – gefunden zu haben. Bier jedoch bekommt er hier nicht zu Gesicht, geschweige denn in die Kehle. Denn in Weißensee werden nur alkoholfreie Getränke hergestellt.
Das war auch zu DDR-Zeiten schon so. Markige Namen von Fruchtgetränken wie „Libana“ gibt es aber nicht mehr. Überlebt haben nur „Ambassador“ und „Club-Cola“. Im Unterschied zu den anderen „Spreequell“-Getränken steht deren Produktname dreimal so groß wie das Firmenlogo auf dem Flaschenbauch – aus Nostalgie. Von Bitter Lemon bis Tonic wird die gesamte Produktpalette mit Mineralwasser hergestellt, das aus den Brunnen auf dem Werkgelände aus über fünzig Meter Tiefe geholt wird.
Mit Ohrstöpseln versucht Höynck, sich dem ununterbrochenen Klappern der Glaswange an Glaswange dichtgedrängten Flaschen zu entziehen. Er kontrolliert die Flaschenentnahme und die Kistenwäsche. Es gibt Tage, an denen alles reibungslos läuft, und andere, an denen technische Pannen zu unerwartetem Stillstand führen. So wie in dem Moment, als der Schalttisch bei der Palettenverladung „Gebindestau Bahn 2“ anzeigt. Das liegt an defekten Paletten, diagnostiziert Produktionsleiter Volkmar Krüger, der seinen weißen Arbeitskittel für die nächste Zeit im Spint eingeschlossen hat. „Jetzt müssen wir alle anpacken“, ist das Motto dieses heißen Sommers. Neben ihm liegt ein großer Scherbenhaufen. Wo mit Flaschen hantiert wird, fallen Scherben. Auch in der weißschäumenden Gleitflüssigkeit, die von den Fließbändern auf den Boden tropft, schwimmen Glasteile herum.
Auf dem Bedienungsfeld der Füllanlage leuchtet in roten Lettern: Produktion. Hinter metallenen Wänden läuft das Mineralwasser in die Flaschen hinein. Auch das Aufsetzen der Schraubverschlüsse geschieht im Bauch der Maschine. In der Etikettieranlage kommen sie wieder zum Vorschein. Im Eiltempo schlängeln sich die noch nackten Flaschen im Kreisrund, acht Bürsten drücken die zwei Etiketten fest. Ein Laser schießt das Herstellungsdatum auf die Flasche, 40.000mal in der Stunde. Erst unter dem Laufwerk der Zählmaschine, die die fertigen Flaschen auf dem Weg zur Verpackung passieren, wird „abgerechnet“: 284.652 steht da. Und 199. Fast 200 Flaschen wollten ohne Beklebung das Band verlassen. Sekunde für Sekunde klettert die sechsstellige Zahl nach oben. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Denn auch wenn die Temperaturen bis Sonntag auf zwanzig Grad zurückgehen sollen, „Spreequell“ wird noch bis Ende August rund um die Uhr Wasser produzieren.
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