Häftlinge in Tegel fühlen sich im Stich gelassen

■ „Depressive“ Stimmung bei letzten 72 Hungerstreikenden / Kirchgang fiel aus

Seit gestern verweigern noch 72 der ursprünglich 160 streikenden Insassen der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel das Anstaltsessen: 27 Häftlinge aus dem Langstrafer- Haus III, wo der Ausstand gestern vor einer Woche wegen der unzumutbaren Hitze mit Arbeitsniederlegungen begonnen hatte, sowie 45 aus Haus II, die sich seit Freitag mit den Streikenden solidarisieren. Am Sonntag waren es noch 103. Nach Angaben eines Interessenvertreters sollte der Hungerstreik gestern offiziell beendet werden.

Ein Gefangenenvertreter, der aus Protest gegen die Zwangsverlegung von vier anderen Insassenvertretern aus der Teilanstalt III in die Häuser I und II der JVA Tegel beziehungsweise in die JVA Moabit weiterhin seine Aufgaben ruhen läßt, beschrieb gestern gegenüber der taz die Stimmung im Knast als „depressiv“. Die Häftlinge würden sich im Stich gelassen fühlen. „Es bröckelt langsam“, konstatierte er die Lage angesichts der Haltung des Senats, nicht von seiner Gliederung in „drogenbelastete und drogenfreie Bereiche“ abzuweichen. Die Gefangenen der „drogenbelasteten“ Häuser III und II fühlten sich nicht „schlechter“ als Mörder in den drogenfreien Häusern IV, V und VI. Deshalb betrachteten sie ihre Forderung nach mehr Freistunden als „minimal“.

Mit großer Verwunderung mußten die Gefangenen den Ausfall des sonntäglichen Kirchgangs zur Kenntnis nehmen, der für alle die einzige Gelegenheit ist, sich zu treffen. Der seit neun Jahren in Haus III einsitzende Insassenvertreter sagte, daß er in der ganzen Zeit nicht einen einzigen ausgefallenen Gottesdienst erlebt habe. Die Anstaltsleitung war gestern nicht zu erreichen.

Unter den etwa zwanzig Demonstranten, die am Sonntag zu der Solidaritätsveranstaltung vor der JVA gekommen waren, befanden sich auch Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen. Der kulturpolitische Sprecher Albert Eckert hatte Inhaftierte in den Häusern III und II besucht. Heute will er Gespräche mit Insassenvertretern beider Häuser führen. Auf Kritik bei Bündnis 90/Die Grünen stößt weiterhin die Haltung des Senats, auf die Forderungen der Häftlinge nach Angleichung der Freistundenregelungen an die in den sogenannten drogenfreien Häusern V und VI nicht einzugehen. „Es wird hart werden“, sagte Eckert, „aber die Lage ist nicht aussichtslos.“ Er forderte den Senat gestern „nachdrücklich zu Gesprächen mit den Gefangenen auf“. Das Ergebnis von Gesprächen zwischen Insassenvertretern und Teilen der Anstaltsleitung am Wochenende beschrieb Uta Fölster von der Justizpressestelle gestern so: „Es ist sicherlich nicht so, daß irgendwelche Forderungen der Häftlinge erfüllt werden.“ Die bauliche Struktur erlaube nur die Ausgabe kalter Getränke und das zusätzliche Öffnen der Zellen zu bestimmten Zeiten. Eine Rückverlegung der zwangsverlegten Gefangenenvertreter wollte sie gestern jedoch nicht ausschließen. Barbara Bollwahn