: Der lange Sommer der Nostalgie
An diesem Wochenende geht es über die Bühne, das ökologisch sanfte Super-Woodstock von 1994. Für die Generation, die weder den Krieg mitgemacht hat noch den Antikrieg, ist es das beste aller möglichen Woodstocks ■ Von Thomas Groß
Trau keinem über 50. „Woodstock nach 20 Jahren wiederzubeleben, das ist, als ob man seinen 15. Geburtstag noch einmal feiern will“, tönte Michael Lang noch Ende der Achtziger, beim letzten Jubiläum der legendären „3 Days Of Peace & Music“. Pünktlich zum Vierteljahrhundertsgedenken hat er sich entschlossen, doch lieber für immer jung zu bleiben. Schließlich war nicht jeder dabei, damals, als die Jugend auf einem Farmgelände 60 Meilen nördlich von New York neu erfunden wurde. Und lange Haare trägt man ja auch wieder.
Lang, beim Original-Woodstock im August 1969 ein Abenteurer von Konzertveranstalter, der mit Mähne und Motorrad durch die Szenerie geisterte, ist für das großangelegte diesjährige Revival ein Stück Corporate identity. Mit seinen mittlerweile 51 Jahren soll er dazu beitragen, die Kluft zwischen den Generationen zu schließen und den „Spirit“ weiterzutragen. Gut, Joplin und Hendrix sind hinüber – und Sly Stone zumindest ziemlich daneben –, aber sehen Bands wie die Spin Doctors, Red Hot Chili Peppers oder Arrested Development ihnen nicht verdächtig ähnlich? Sogar Bob Dylan, der damals unpäßlich war, konnte gewonnen werden. „2 Days more of Peace & Music“ verspricht das Plakat mit der immer noch gleichen Taube auf dem Gitarrenhals für dieses Wochenende. Als sei alles gestern erst zu Ende gegangen; als hätte man nur eben mal kurz Urlaub genommen vom geschichtlichen Moment.
Daß es Streit gegeben hat um das Erbe, daß am Originalschauplatz, der Farm von Max Yasgur, gar ein — kleineres — Gegenfestival mit Namen „Bethel 94“ startet, fällt da nicht weiter ins Gewicht. Eine häßliche Begleiterscheinung, aber ohnehin ist Woodstock längst kein Ort mehr, sondern ein Mythos, ein Label, ein Markenname, der Ausgangspunkt einer unablässigen Kolportage. „Woodstock“ is on the air. Das Pay-TV wird rechtzeitig auf Sendung gehen, und Polygram, der Medienkonzern im Hintergrund, posaunt es schon seit Monaten in die Welt hinaus: „Ein Soundtrack-Album von Woodstock 94 wird in diesem Herbst erscheinen. Film- und Fernsehauswertungen werden im Polygram- Woodstock-94-Planungsstab vorbereitet.“
Good Luck für Lang. Er vertritt Woodstock Ventures, und Woodstock Ventures besitzt die Vermarktungsrechte an „Woodstock“, dem Namen, der bis heute in regelmäßigen Abständen rituelle Beschwörungen und Gegenbeschwörungen hervorgerufen hat: auf der einen Seite die Apologeten, die wortreich den Glauben an die glücksbringende Kraft der Woodstock Nation wachhalten, auf der anderen die Enttäuschten, die ewigen Demystifizierer und Renegaten; sie betrachten Woodstock als Sündenfall der Alternativkultur, als Schritt zum Ausverkauf und allen Kommerzes Anfang. Als ob es nicht schon immer beides gewesen wäre.
Keiner weiß das besser als Michael Lang. Als er zusammen mit einigen anderen middle class-Söhnen die Idee zu einem Open-air- Konzert hatte, ging es um recht prosaische Dinge. Ein Studio wollten sie sich finanzieren, idyllisch am Fuße der Catskill Mountains gelegen – im Städtchen Woodstock, dem Worpswede der New Yorker Boheme. Vielleicht wollten sie auch ein bißchen raus aus ihren langweiligen Biographien. Daß mehr daraus wurde, hat viel mit unternehmerischem Unvermögen zu tun. Hektische Organisation, löchrige Zäune, Chaos. „It's a free concert from now on“ – die legendären Worte wurden erst gesprochen, als ohnehin kein Halten mehr war; und keiner kann sagen, sie hätten sich nicht nachträglich bezahlt gemacht.
Längst haben investigative Journalisten das alles herausgefunden, und die weniger investigativen köcheln es zum gegebenen Zeitpunkt hoch. Und doch ist dieses Bedürfnis nicht erlahmt, Woodstock durch die Summe seiner Repräsentationen hindurch anzustarren – den Film, der immer noch in den Köpfen läuft, den Soundtrack, der millionenmal verkauft wurde. Woodstock ist das Lourdes des gegenkulturellen Glaubens, und weil das Wunder sich bislang nicht wiederholt hat, verlangt es nach Auslegung; als gäbe es einen Rätselrest zu entziffern, eine Bedeutungsschicht, die sich nur hartnäckig in die Nischen hineingefressen hat, um jeden Moment aus irgendeinem Detail wieder hervorzutreten: den Farben, den Reden, den Geräuschen, der Schlammkruste, die sich über das Ereignis gezogen hat.
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Der Schlamm! Was wäre Woodstock ohne den Schlamm gewesen? Ein übertrieben langes Rockkonzert vielleicht, aber niemals dieses kathartische Ritual, diese Versuchung des Herrn. „No rain! No rain!“ schleudert die Masse dem Himmel entgegen, der sich böse verfinstert. Doch schon öffnen sich die Schleusen, die Musik verstummt – Apocalypse now: 400.000 ohne festen Boden unter den Füßen.
Und dann passiert es. „Wie finden Sie's“, fragt der bebrillte Reporter immer wieder ein wenig fassungslos. „Großartig, we enjoy it“, ist die einhellige Antwort, gegeben von unverhofft nackten Gestalten, ein feuchtes Kleidungsstück allenfalls als Feigenblatt – Söhne und Töchter Amerikas, denen der eigene Wagemut die Stimme leicht nach oben färbt. Andere kauern unter Plastikplanen zusammen wie Kinder oder nasse Tiere. Und während das Gelände in Schlamm und Scheiße zu versinken beginnt, Armeehubschrauber über der Szene schweben und Senator Rockefeller in Erwägung zieht, den nationalen Notstand auszurufen, benehmen sich die 400.000 immer ungehemmter wie die Leute, vor denen ihre Eltern sie immer gewarnt haben.
Die Mondlandung, das andere Ereignis von 1969, nur wenige Wochen zuvor über die Bildschirme geflimmert, war der ebenso triumphale wie traurige Höhepunkt eines Aufbruchs: Neil Armstrong als Mann im Mond, ein einsamer Ritter in technischer Rüstung. Woodstock dagegen war eher ein Zusammenbruch, das schöne Fiasko, der kollektiv und lustvoll erlebte Bankrott für ewig gehaltener Werte: Junge Männer, extrem heldische Modelle zum Teil, die glaubhaft versprechen, Liebe statt Krieg machen zu wollen; Frauen, von denen die Kamera zwar bevorzugt ein bißchen Busen zeigt, doch auch sie scheinen der Befreiung irgendwie nahe. Und das Erstaunlichste: Nichts passiert. Die Welt geht nicht unter, kein Schicksal schlägt rächend zurück. Gott hat Blitze geschleudert, aber seine Kinder haben aus dem Fleckchen Erde ein dreckiges kleines Anti- Vietnam gemacht.
Nichts passiert – dieser wiederkehrende Satz der Woodstock-Berichterstattung hat allerdings auch etwas objektiv Ironisches. „Die einzige wirkliche Überraschung war, daß es keinen Aufstand gegeben hat“, schrieb Ellen Willis, Reporterin des New Yorker, bereits in einem der ersten Berichte. Und das heißt ja nicht nur: kein Blutbad, keine Plünderungen, sondern auch: keinen Marsch aufs Weiße Haus, keine „kommunistischen“ Umtriebe, keine weiterreichenden Folgen für die vereinigten Mächte von Amerika. Eine ungeheure Erleichterung ist herauszuhören aus vielen Augenzeugenberichten: Nichts ist passiert als ein bißchen Suhlen im eigenen Dreck, und das macht Woodstock auch zu einer grandiosen Feier der Harmlosigkeit. Als hätten die 400.000 dem Gott der Geschichte beweisen wollen, daß sie trotz allem brave Kinder sind.
So hat auch das göttliche Auge, die Kamera, es gesehen, und viele haben sich nachträglich in diesem Spiegel erkannt. „Woodstock“, der Konzertfilm von Michael Wadleigh, ist die Ausgabe letzter Hand, die mediengerechte Aufbereitung, The Great Woodstock Swindle. Nicht dokumentiert ist die Rede des radikalen Jugendagitators Abbie Hoffman, den Pete Townshend während des Konzerts der Who von der Bühne trat; kein Bild auch für die drei Toten, die das Festival gekostet hat. Statt dessen die Inszenierung eines baggerseeartigen Glücks, wie es unmittelbar darauf vom jungen Mittelstand der Siebziger übernommen wurde.
Wann immer seither zwei Pommesbuden einer mittleren PA begegnen, ist Woodstock irgendwie unter ihnen. Bloß der Glücksfall, die Antiökonomie inmitten ökonomischer Ziele, ist unwiederholbar geblieben – Objekt nostalgischer Verklärungen und verkaterter Analysen zugleich. Woodstock, schrieb das Musikmagazin Rolling Stone im dünnen Verzichtston der Kritischen Theorie, sei ein Symbol für die „Fähigkeit des Avantgardekapitalismus, an den Auflehnungen, die sein System hervorruft, zu profitieren und sie zugleich zu kontrollieren“.
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In dieser Fassung ist Woodstock auch auf mich gekommen, am Abend eines revoltelosen Nachgeborenensommers, in dem die Kinos die Hits von gestern recycelten. Seither hat es Punk gegeben, doch je mehr die sechziger Jahre in der Zeit zurücksinken, desto hoffnungsloser entzündet sich gerade am Beispiel der Vergangenheit die Sehnsucht, der lange Sommer der Nostalgie möge einmal zu Ende gehen. Greil Marcus – selbst ein Woodstock-Veteran – hat darin eine Art von Phantomschmerz erkannt: Für die traurigen Enkel seien die goldenen Sixties das „Jucken eines Körperteils, der ihnen vor ihrer Geburt amputiert wurde“.
Daß Woodstock 94 – sowohl vor als auch auf der Bühne – vor allem von solchen Enkeln bevölkert werden wird, ist Ausfluß dieser symbolischen Kastration. Den Krieg haben sie nicht erlebt, den Antikrieg auch nicht; nirgends lagen sie im Schlamm, und Yuppieland ist abgebrannt. „Slacker“ und „Generation X“, die beiden Modewörter für die heute 25- bis 30jährigen, romantisieren nur notdürftig die depressive Lage einer Generation, der als Folge der Reagan- und Bush-Jahre die bürgerlichen Karrieren abhanden gekommen sind, ohne daß die subkulturellen ihnen noch viel versprechen könnten. Längst machen ein paar Drogen und Sprüche keine Revolte mehr, längst ist repressive Toleranz die Grunderfahrung jeden Heranwachsens. Der MTV- und Pepsi- Cola-Kapitalismus kontrolliert seine Negationen heute besser als je zuvor, und gerade das erzeugt umgekehrt jene halluzinatorische Mischung aus Pragmatismus, Trotz und Selfmade-Romantik, mit der Gruppen wie Arrested Development die kommunehaften Ideale der Sechziger aufgreifen. Man muß eben kämpfen für sein Recht auf die Party, das jeder Generation nach einem ehernen Gesetz der Unterhaltungsindustrie und ihrem bohemistischen Bastard, der Pop-Dissidenz, zustehen soll. Was dem 94er Woodstock- Revival allerdings kaum die Züge einer Farce nimmt – schon gar nicht unter einem Rock-'n'-Roll- Präsidenten wie Bill Clinton. „Gekifft, aber nicht inhaliert“: Gibt es ein ironischeres Bonmot auf das Verhältnis der Neunziger zu den Sechzigern als dieses Clintonsche Bekenntnis? Und scheint es nicht als geheimes Motto über Langs Festival zu schweben, auf dem nach dem Willen von Woodstock Ventures keinerlei Drogen erhältlich sein werden, noch nicht einmal Bier?
Unser Woodstock soll schöner werden: Woodstock 94, das ist Super-Woodstock, eine von langer Hand geplante Bretterbudenstadt auf der grünen Wiese mit zwei Riesenbühnen und integriertem Greenpeace-Stand – und gerade deshalb auch ein Geister-Woodstock, ein Clintonsches Dorf ohne Wunder und Exzeß.
Vergiften können wird man sich auf dem Spektakel, das im rezessionsgeplagten Flecken Saugerties, ein paar Meilen östlich des Ortes Woodstock, über die Bühne gehen wird, allenfalls an der offiziellen Woodstock-Eiscreme des Herstellers Häagen Dasz – oder an einer Überdosis virtueller Realität: „Surreal Field“ heißt die Ecke, in der ein Game Park mit interaktiven Arkaden und computergesteuerten Gimmicks installiert sein wird, und Apple wird bei der Erstellung einer elektronischen Festival-Zeitung mit Know-how und Hardware behilflich sein. Ansonsten soll ein Heer von 1.500 Security-Leuten für reibungslose Abwicklung sorgen, ein ganzer Katalog von „Do it's“ und „Don'ts“ hat selbst die in Sicherheitsfragen einiges gewohnte US-Presse zu ironischen Kommentaren verleitet, und auch die Zäune werden dieses Mal garantiert halten. Zu viele Geldgeber sind im Spiel – don't bogart that Joint venture, my friend.
Ironisch an dieser Optimierung der Attraktionen und Einsätze aber ist ein letztes Mal, daß sie weniger einem Verrat an der „Idee“ von Woodstock entspringt als vielmehr deren totaler pragmatischer Verwirklichung unter den Bedingungen des Dienstleistungskapitalismus. Daß Tickets nur im Viererblock erhältlich sind, ist Ausdruck von Gewinnstreben und guter ökologischer Gesinnung zugleich: Niemand soll alleine im Wagen anreisen.
Auch der happige Preis von 135 Dollar geht nicht nur auf das Konto der Veranstalter, er folgt ebenso aus einem durchdachten Plan, der die stinkenden Autokolonnen vom Ort des Geschehens fernhält, sich lokale Infrastrukturen inclusive Shuttle-Verkehr etwas kosten läßt.
Gut kann man sich auch hippieske Kraftbällchenverkäufer an entscheidenen Einfallswegen vorstellen, und ist das etwa nicht a dream come true? Das ökologisch softe Super-Woodstock folgt der selben Logik der radikalisierten Dienstleistungserfüllung, die auch aus Disneyland das beste aller möglichen Disneylands gemacht hat.
Wenig wahrscheinlich bloß, daß ausgerechnet der Weltgeist noch einmal hereingeweht kommt in diese Anlage. Viel eher steht zu erwarten, daß Woodstock, erschrocken von so viel fürsorglicher Belagerung, sich in irgendeine Ackerfurche legt und weiterschläft. Falls keine Revolutionen passieren, heißt das: Bis zum nächsten Jubiläum.
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