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Hoffen auf das Gute Regieren

Ist der Sozialstaat erschöpft – dann hilft nur die Umverteilung von Verantwortung  ■ Von Udo Knapp

Joachim Becker, seit 1985 Oberbürgermeister in Pforzheim, Sozialdemokrat, weiß, wovon er spricht. Die Kommunen, die Städte, Gemeinden und Landkreise müssen als erste und auf sich selbst gestellt mit den unausweichlichen Veränderungen im sozialen Gefüge fertig werden. Die frei verfügbaren Einkommen gehen deutlich zurück. Arm und Reich werden wieder schärfer voneinander geschieden. Die Aufwendungen für die Sozialhilfe explodieren, und obwohl die freiwilligen Leistungen der Kommunen gegen null gehen, bleiben die kommunalen Haushalte chronisch defizitär. Daran ändert auch das als Königsweg allerorten geübte gedankenlose Verscherbeln des öffentlichen Eigentums kaum etwas. Vieles, was uns selbstverständlich geworden ist, preiswerte Kindergartenplätze, Schwimmbäder, satt geförderte Theater und vieles andere mehr, wird verschwinden. Schulgeld, Studiengebühren, in welcher Form auch immer, höhere Selbstbeteiligung bei Gesundheitsdienstleistungen sind absehbar.

Obwohl das hier grob gezeichnete Bild große Zumutungen bereithält, gebetsmühlenartig immer wieder vorgetragen wird, beunruhigt es kaum jemanden. Politische Mobilisierung läßt sich aus seiner öffentlichen Dramatisierung auch nicht gewinnen. Unangenehm für jede Opposition, aber nicht weiter erstaunlich. Denn die schon eingeleitete Anpassung unserer Sicherungssysteme (zum Beispiel Gesundheitsreform) an die neuen finanziellen Rahmenbedingungen wird von einem hohen Standard sozialer Sicherheit aus vollzogen. Auch wenn die materiellen Einschnitte schmerzen werden, geht die soziale Grundabsicherung nicht verloren.

Und die politische Stabilität der Bundesrepublik erlaubt ein offensives Herangehen an große Reformprojekte. Das sind Reformprojekte, die nicht mehr wie gewohnt auf mehr Verteilungsgerechtigkeit zielen, sondern lediglich die Verantwortung neu verteilen. Was dabei als reiner Sozialabbau zu Lasten der Schwächeren zu verhindern und was als Rekonstruktion gesellschaftlicher Nähe und individueller Selbstbestimmung durch eigene Vorschläge zu befördern ist, gilt es genauer auszuloten. Hier setzt Beckers Argumentieren ein.

Er will durchsetzen, daß öffentliche Hilfe nur diejenigen, die sie wirklich brauchen, auch bekommen, sie in Anspruch nehmen, sie nicht nur konsumieren, sondern aktiv und selbstbewußt für sich einsetzen ... Die Mittelschichten, manchmal unscharf als „die Besserverdienenden“ beschimpft, sollen die Umverteilung zu den Bedürftigen durch Konsumverzicht finanzieren. Soziale Gerechtigkeit trotz knapper Mittel als System der Stärkung individueller Verantwortlichkeit für das eigene Schicksal – das ist ein neues Leitbild des Systems der sozialen Sicherheit.

Beckers Variante dazu ist streng und einfach und gerecht: Wer sich nicht selbst helfen will, dem wird auch nicht geholfen. Alle Sozialromantik wird bei ihm durch leistungsbezogenes, scharf kalkuliertes und offen am Markt für soziale Dienstleistungen konkurrierendes Handeln aller Beteiligten ersetzt. Menschlichere soziale Versorgung, gemeinde-, wohnort- oder familiennah, zu niedrigeren Kosten, niedrigeren Löhnen der Betreuenden und höherer Eigenleistung der Bedürftigen – das ist seine Perspektive für Kindergärten, Krankenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen.

Die Macher in den Institutionen, den Verbänden und in den Privatfirmen für soziale Dienstleistungen haben Konjunktur. Beckers Modell eines sozialen Wandels setzt nicht auf den mobilisierenden Kampf Benachteiligter von unten oder von außerhalb der Institutionen. Er setzt auf den Staat, das „Gute Regieren“, soziale Gerechtigkeit, aus kluger Ordnungspolitik der Institutionen gewonnen. Das so vertraute Bild der um ihre Rechte kämpfenden Benachteiligten, die sich organisieren und dem Staat mehr Zuwendung abtrotzen, kommt in Beckers Buch gar nicht mehr vor. Wesentlicher scheint die Frage, wie die Mittelschichten, die den Sozialumbau zuallererst als Verzicht hinnehmen müssen, reagieren werden.

Auch wenn die Solidaritätsbereitschaft größer ist als allgemein immer behauptet – durch die klaglose Finanzierung der Wiedervereinigung beeindruckend belegt –, kann die Verweigerung oder Kritik der Mittelschichten an einem solchen Umbau durchaus zu politischen Turbulenzen führen. Damit setzt Becker sich in seinem Buch nicht auseinander. Hier unterscheidet er sich auch von Wertkonservativen, wie Biedenkopf oder Dettling. Die gehen davon aus, daß der erzwungene Verzicht nur dann nicht zu Destabilisierung führt, wenn die Mittelschichten sich aus ihrer Versorgungsmentalität lösen, Gesellschaft rekonstruieren und lernen, kollektiv als politische Subjekte in ihrem Alltagsleben zu handeln. Daß ein solcher Verhaltenswandel nicht von selbst kommt, sondern ordnungspolitische Hilfe braucht, ist selbstverständlich. Es erstaunt, daß dieser eigentlich ur- sozialdemokratische Gedanke, der das „Ethos der Verantwortlichkeit des einzelnen für das Gemeinsame stärken will“, in Beckers Thesen explizit nicht vorkommt.

Andererseits ist die Frage erlaubt, inwieweit die Hoffnungen vieler Wertkonservativer oder auch der Kommunitaristen auf eine moralische Rekonstruktion von Gesellschaft nicht selbst so ideologisch sind, daß sie an der Wirklichkeit der am Individualismus orientierten Konkurrenzgesellschaft kaum etwas ändern. So betrachtet, gewinnen Beckers Thesen den nüchternen, pragmatischen und realpolitischen Charme eines sozialdemokratischen Machers, der sein öffentliches Amt in seiner Kommune als Verpflichtung zum Gestalten im Interesse der besonders Benachteiligten betrachtet und gebraucht. Über einzelne seiner sehr holzschnittartigen Vorschläge wäre dennoch mit allem Ernst zu streiten. Das ist allemal besser, als den CDU/CSU-Sozialreformern sang- und klanglos die nächsten Jahre zu überlassen.

Joachim Becker: „Der erschöpfte Sozialstaat – Neue Wege zur sozialen Gerechtigkeit“. Eichborn Verlag, Ffm 1994, 165 S., 24,80 DM

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